"Mit arbeitsrechtlichen Konsequenzen zu drohen, ist ein Affront" - Tarifstreit in Stuttgart eskaliert mit neuen Eigentümern

Von Jana Ballweber (KNA)

GEWERKSCHAFTEN - Seit über einem Jahr kämpfen Beschäftigte im Stuttgarter Pressehaus um einen Tarifvertrag. Der Wechsel der Eigentümer hat den Konflikt offenbar verschärft. Die Gewerkschaften sind alarmiert, der Verlag schweigt.

| KNA Mediendienst

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Pressehaus Stuttgart

Foto: Arnulf Hettrich/Imago/KNA

Stuttgart (KNA) Der Tarifstreit im Stuttgarter Pressehaus hat eine neue Eskalationsstufe erreicht. Nach der Übernahme der "Stuttgarter Zeitung" und der "Stuttgarter Nachrichten" durch die Neue Pressegesellschaft (NPG) aus Ulm war der eigentlich schon fertig verhandelte Haustarifvertrag für die Beschäftigten der Zeitungsgruppe Stuttgart wieder zu den Akten gelegt worden. Nachdem die neuen Eigentümer ein für die Gewerkschaften nicht akzeptables Angebot unterbreitet hatten, riefen diese die Belegschaft in der vergangenen Woche zum Streik auf. Weil sich - wie bei den vergangenen Streiks in Stuttgart auch - die noch tariflich gebundenen Redakteure der Blätter mit einem Solidaritätsstreik am Arbeitskampf beteiligen wollten, drohte die Geschäftsführung in einer Mail an die Belegschaft am vergangenen Mittwoch mit arbeitsrechtlichen Konsequenzen, sollten die tariflich gebundenen Mitarbeiter am Streik teilnehmen. In der Mail, die dem KNA-Mediendienst vorliegt, schreibt die Geschäftsführung: "Wir weisen darauf hin, dass alle Mitarbeitenden der Gesellschaft bereits an einen Tarifvertrag und die damit verbundene Friedenspflicht gebunden sind." Die Teilnahme an einem Solidaritätsstreik für die Zeitungsgruppe Stuttgart sei aus Sicht der Arbeitgeber rechtswidrig, weil die sich solidarisierenden Mitarbeiter kein eigenes erstreikbares Ziel verfolgen. Der Solidaritätsstreik diene damit keinem durch die vom Arbeitskampf unmittelbar Betroffenen regelbaren tariflichen Ziel und sei deshalb unzulässig. Die NPG reagierte bisher nicht auf die Frage nach einer Stellungnahme zum Tarifkonflikt und zu dieser Ankündigung. Die Rechtsprechung ist in Bezug auf Solidaritätsstreiks ziemlich eindeutig. 2007 entschied das Bundesarbeitsgericht, dass ein Solidaritätsstreik nur unzulässig ist, wenn er "zur Unterstützung des Hauptarbeitskampfs offensichtlich ungeeignet, offensichtlich nicht erforderlich oder unangemessen ist". Die Friedenspflicht, also ein Verzicht auf Arbeitskampfmaßnahmen nach dem Abschluss eines Tarifvertrags, ist laut Bundesarbeitsgericht kein Grund gegen einen Solidaritätsstreik. Sofern nicht ausdrücklich etwas anderes vereinbart sei, beziehe sich die Friedenspflicht "nur auf die tarifvertraglich geregelten Gegenstände". Sie verbiete es den Tarifvertragsparteien, einen bestehenden Tarifvertrag inhaltlich dadurch in Fragen zu stellen, dass sie Änderungen oder Verbesserungen der bereits vertraglich geregelten Gegenstände mit Mitteln des Arbeitskampfrechts durchzusetzen versuchen. Im Klartext bedeutet das: Die Mitarbeiter, die nach dem Flächentarifvertrag für Redakteure an Tageszeitungen bezahlt werden, dürfen nach Abschluss des neuen Flächentarifvertrags zwischen Verlegerverband und den Gewerkschaften in diesem Sommer nicht dafür streiken, selbst besser bezahlt zu werden. Dass sie hierfür der Friedenspflicht unterliegen, bedeutet aber laut Bundesarbeitsgericht nicht, dass sie sich nicht an einem Solidaritätsstreik für ihre nicht vom Flächentarifvertrag erfassten Kollegen beteiligen dürfen. Hintergrund der Auseinandersetzung ist die komplizierte Gehalts- und Gesellschaftsstruktur bei "Stuttgarter Zeitung", "Stuttgarter Nachrichten" und lokalen Schwesterblättern. Wer schon länger im Stuttgarter Pressehaus arbeitet, wurde seinerzeit mit Tarifbindung eingestellt. Seit einigen Jahren sind aber alle neuen Mitarbeiter bei der neu geschaffenen Zeitungsgruppe Stuttgart beschäftigt, die an keinen Tarifvertrag gebunden ist und deshalb deutlich niedrigere Gehälter zahlt. Laut Angaben der Gewerkschaften unterscheiden sich die Löhne bei vergleichbarer Tätigkeit pro Jahr um Tausende Euro. Seit über einem Jahr versuchen nun die Beschäftigten der Zeitungsgruppe Stuttgart einen Haustarifvertrag zu verhandeln. Nach rund 20 Streiktagen kam mit der damaligen Geschäftsführung ein für beide Seiten akzeptables Ergebnis zustande, das immer noch unter dem Niveau des Flächentarifvertrages gelegen hätte. Doch im Mai folgte der Paukenschlag: Die Südwestdeutsche Medienholding verkaufte kurz vor der geplanten Unterzeichnung des Haustarifvertrags ihre Stuttgarter Blätter an die Neue Pressegesellschaft in Ulm. Die neuen Eigentümer wollten vom Haustarifvertrag nichts mehr wissen, sagte der Betriebsratsvorsitzende von "Stuttgarter Zeitung" und "Stuttgarter Nachrichten", Michael Trauthig, dem KNA-Mediendienst. "Uns wurde nach der Übernahme gesagt, dass es bezüglich des Tarifvertrags noch Klärungsbedarf seitens der neuen Eigentümer gebe", so Trauthig. Man habe sich schnell darauf einigen können, dass zumindest der Anspruch auf Altersvorsorge mit dem Presseversorgungswerk für alle Redakteure gelte. Dafür haben man eine Friedenspflicht, also einen Verzicht auf neue Streiks, bis zum 30. September vereinbart. Bei den folgenden Verhandlungen habe die Arbeitgeberseite dann zunächst kein eigenes Angebot vorgelegt, heißt es aus dem Umfeld der Tarifkommission. Vielmehr habe die Geschäftsführung von der Verhandlungskommission eine Erklärung verlangt, dass man von der bisherigen Tarifeinigung Abstand nehme. Erst dann sei man bereit, konkret zu sagen, was am bereits ausgehandelten Vertrag nicht passe, sagte ein Mitglied der Kommission dem KNA-Mediendienst. Nach langem Hin und Her stellte sich heraus: Das war eine ganze Menge. "Arbeitszeit, die Staffelung der Berufsjahre und zum Teil die Gehaltshöhen seien so nicht akzeptabel, hat die Geschäftsführung gesagt. Also zusammenfassend: alles Wesentliche, was im Tarifvertrag steht", so Betriebsratschef Trauthig, der der Tarifkommission angehört. Was man sich stattdessen vorstellt, wollten die neuen Eigentümer beim folgenden Verhandlungstermin am 30. September, also zum Ende der Friedenspflicht, bekanntgeben. "Was dann in der vergangenen Woche kam, hatte nichts mit dem zu tun, was wir ursprünglich verhandelt hatten", so Trauthig weiter. Die vorgesehene Gehaltssteigerung soll demnach teilweise an Leistungsziele gekoppelt werden und werde laut Trauthig mit der Inflation niemals Schritt halten können. Von der Wochenarbeitszeit von 40 Stunden wollte die NPG nicht abrücken. Dieses Angebot war für die Gewerkschaften nicht akzeptabel, weswegen sie ab dem 2. Oktober zu einem viertägigen Streik aufgerufen hatte. "Anstatt nach der Übernahme der Medienholding Süd die berechtigten Sorgen und Ängste der Beschäftigten mit vertrauensbildenden Maßnahmen zu entkräften, hat der neue Arbeitgeber den Frontalangriff auf die neu übernommene Belegschaft gestartet", sagt Verdi-Landesbezirksleiterin Maike Schollenberger. Die Kolleginnen und Kollegen "können die Sonntagsreden ihrer Arbeitgeber und Verleger, wie wichtig ihre Arbeit für die Demokratie sei, nicht mehr hören, wenn ihnen von den gleichen Akteuren genau diese Arbeit immer schwerer gemacht wird", so Schollenberger weiter. Ihr Kollege Uwe Kreft von Verdi in Stuttgart ergänzt: "Einen bereits fertig geeinten Tarifvertrag platzen zu lassen ist schon sehr irritierend, zum Solidaritätsstreik aufgerufenen Beschäftigten mit arbeitsrechtlichen Konsequenzen zu drohen ein echter Affront." Aus der Belegschaft heißt es, viele hätten sich trotz der Drohung am Solidaritätsstreik beteiligt, manche seien aber auch eingeschüchtert gewesen und hätten Sorgen vor Konsequenzen. Auch für die Gewerkschaften steht viel auf dem Spiel: "Wenn wir den Kampf um die Tarifbindung in Stuttgart verlieren, brauchen wir woanders in Baden-Württemberg gar nicht erst anzufangen", hört man von dort. Der nächste Verhandlungstermin zwischen Tarifkommission und Geschäftsführung ist für den 13. November angesetzt. Dass es angesichts der vergifteten Stimmung zu einem Durchbruch kommt, halten viele in der Belegschaft für unwahrscheinlich.

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