Emotional "die ganze Gesellschaft" begeistern - ARD stellt dokumentarische Pläne bei "TopDocs"-Event vor

Von Christian Bartels (KNA)

MEDIENENTWICKLUNG - Bei der "TopDocs"-Veranstaltung am Rande der Berlinale stellte die ARD ihre dokumentarischen Attraktionen und Pläne vor. Prominente Fernsehgesichter und Tiere spielen Hauptrollen. Die Fixierung auf die Mediathek hilft, am linearen Programm möglichst wenig ändern zu müssen.

| KNA Mediendienst

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ARD-Treffen "TopDocs"

Foto: Thomas Ernst/RBB/ARD/KNA

Berlin (KNA) Vor zehn Jahren lud die ARD erstmals während der Berlinale zur Veranstaltung "TopDocs". 2023 fand sie nicht mehr am geografischen Rand des Filmfestspiele-Areals in Berlin-Mitte statt, sondern im weiter entfernten Haus des Rundfunks des RBB - offenkundig kostenbewusst. Kein Wunder, am selben Tag hatte RBB-Intendantin Katrin Vernau ihre Sparmaßnahmen für die angeschlagene Rundfunkanstalt publik gemacht (vgl. MD 8/23). Davon allerdings sprach die Hausherrin in ihrer leicht nervösen Begrüßungsrede nicht. Bei den "TopDocs" geht es einerseits ums Vorstellen dokumentarischer ARD-Projekte, andererseits ums Vernetzen mit den zahlreich anwesenden Dokumentarfilm-Machern, die den größten Teil des Publikums bilden. Insofern hagelte es schöne Worte und große Zahlen rund ums Doku-Fernsehen. "Königsdisziplin des Journalismus" nannte der SWR-Intendant und ARD-Vorsitzende Kai Gniffke den Dokumentarfilm. Der sei ein "Marathonlauf", bei dem die ARD mit internationalen Streamingdiensten wie Netflix, die ebenfalls Dokumentationen zeigen und in Deutschland beauftragen, "nicht nur mithalten" wolle. 290 Stunden Dokumentarisches habe die ARD 2022 nach eigenen Berechnungen allein im Ersten Programm gezeigt, 18 Stunden mehr als im Jahr davor. 3,3 Millionen "Stream-Views" habe die Doku-Serie "Being Jan Ullrich" erzielt. Was dafür weichen musste, deutete ARD-Chefredakteur Oliver Köhr an: Es gab "etwas weniger Magazinsendungen". Künftig soll die im ARD-Verbund just neu geschaffene "Koordination Dokumentationen" dafür sorgen, dass seltener mehrere ARD-Anstalten zugleich "sehr ähnliche Filme zu sehr ähnlichen Themen zu sehr ähnlichen Zeitpunkten" herstellen, erklärte Köhr leicht ironisch. Stattdessen solle lieber ein Film mit umso "mehr Strahlkraft" entstehen. Die "KoDok" ist beim Bayerischen Rundfunk angesiedelt und wird von dessen Informationsdirektor Thomas Hinrichs bekleidet. Zwischendurch wurden in flott montierten Trailern kommende Attraktionen vorgestellt. 2023 wird es etwa um die "Crash-Generation" gehen, die nach der Wiedervereinigung im deutschen Osten aufwuchs, um inzwischen hoch betagte "Kinder der Flucht" am Ende des Zweiten Weltkriegs und danach, sowie um "Kriegsmädchen" aus jüngeren Kriegen in Bosnien und Syrien. Weitere Filme kreisen um "Kennedys Liebe zu Europa", um die gefälschten Hitler-Tagebücher und um "Die Machtmaschine" Facebook. "Der King" wird Großbritanniens neuen König Charles III. vorstellen - und so das öffentlich-rechtliche Faible für monarchische "Royals" bedienen. Dass im selben Trailer auch die inszenierte Impro-Serie "Die Paartherapie" angeteasert wurde, machte deutlich, dass die ARD den Begriff des Dokumentarischen gerne sehr weit fasst, um auf einen hohen Anteil am Gesamtprogramm zu kommen. Ausführlich vorgestellt wurde ein aus gutem Grund bereits am 24. Februar startender Höhepunkt: "Stimmen aus dem Krieg - Ukraine 2022" erinnert an den Beginn des russischen Angriffskrieg vor einem Jahr. Ukrainische Frauen erzählten in einer in ukrainischen Städten aufgestellten "Storybox", also vor schlicht schwarzem Hintergrund, von Kriegserlebnissen - worüber und wielange sie wollten. Mit diesem Muster hatte der britische Regisseur David Belton nach dem 09/11-Anschlag in New York gute Erfahrungen gemacht. Es gebe "viele Tränen, aber auch schöne Liebesgeschichten" zu sehen, versprach die Kiewer Produzentin Olga Serdyuk. Stellt sich die Frage, warum die ARD die bereits in viele europäische Länder verkaufte Produktion erst um 23.05 Uhr ausstrahlt. Die Antwort lautet, dass die Auswertung in der Mediathek inzwischen wichtiger sei als lineare Sendeplätze. "Die Zeit", also die Uhrzeit der linearen Ausstrahlung, "spielt nicht mehr die Rolle", sagte Gniffke auf eine Frage von Veranstaltungsmoderatorin und ARD-Kulturgesicht Siham El-Maimouni. Heißt: Die ostentative Priorisierung der Mediathek macht für die ARD-Verantwortlichen die lange diskutierte Frage obsolet, ob öffentlich-rechtliche Programme nicht mehr informative und kulturelle Sendungen zur besten Sendezeit zeigen müssten, um ihrem Auftrag gerecht zu werden. "Um 20.15 Uhr, im Umfeld von ZDF-Krimi und Günter Jauch, brauchen wir einen emotionalen Zugang, der die Leute dranhält", formulierte es Eckart von Hirschhausen. Der umtriebige Arzt und Quizshow-Moderator kam als Vertreter der "Presenter Dokus" aufs Podium, die für die dokumentarische ARD-Planung weiterhin eine große Rolle spielen. 2023 wird er auf dem Sendeplatz am Montagabend gleich nach der "Tagesschau", auf den die ARD besonders stolz ist, eine Dokumentation über Long-Covid-Erkrankte präsentieren. "Russland, Putin und wir Ostdeutsche" der "Sportschau"-Moderatorin Jessy Wellmer wurde als weiteres Beispiel einer erfolgreichen Presenter-Reportage lobend erwähnt. "Tagesthemen"-Moderator Ingo Zamperoni, der schon seine US-amerikanischen Schwiegereltern für Reportagen über die gespaltenen USA besuchte, wird nun seine italienische Familie aufsuchen und ergründen, wie es sich unter einer "postfaschistischen Regierung" lebt. "Anchor-Dokus" und "Köpfe-Management", lauten ARD-interne Begriffe für das Rezept, dokumentarische Programme mit prominenten Fernsehgesichtern zu bestreiten. "Köpfemanagement ist ein furchtbares Wort", gab Koordinator Hinrichs zu, doch erreichten solche Sendungen linear über drei Millionen Zuschauer. Und Wellmers Film sei es "erstmals gelungen, die Menschen aus dem Osten mitzunehmen". Die SWR-Reihe "Wir können auch anders" soll ab März mit Prominenz wie Anke Engelke, Axel Prahl, Bjarne Mädel und dem jungen Comedian Aurel Mertz "in einem positiven handlungsorientierten Rahmen" zeigen, welche neuen Lösungsideen es für Umwelt- und Klimaschutz gibt - und scheint eher für die Mediathek als fürs lineare Programm beauftragt worden zu sein. Zumindest stellte der ARD-Online-Inhalte-Chef Jonas Schlatterbeck sie als kommenden "Hingucker auf der Startseite" vor. Damit die ARD "die deutsche Gesellschaft in ihrer Gesamtheit" erreicht, sollten solche "starken Inhalte für 20- bis 50-Jährige" kompensieren, dass lineares Publikum umso älter ist. Linear einschaltendes Publikum könne außer über Fernsehprominenz auch über Tiere zum Einschalten dokumentarischer Programme veranlasst werden. Das erläuterte Dokumentarfilmer Thomas Behrend, dessen "Blue Planet"-Film-Produktion für die 2023 mit 17 Sendungen projektierte Montagabend-Reihe "Erlebnis Erde" seit bereits drei Jahren an den Folgen "Unsere Meere" über Nord- und Ostsee arbeitet. Mit Protagonisten wie Katzenhai-Babys gelinge es, "Emotionalität zu schaffen" und Zuschauer zu begeistern, berichtete der selber begeisterte Dokumentarfilmer. Dank "Teleskoplinsen direkt über dem Meeresboden" lasse sich der Liebesakt von Krabben "auf Augenhöhe" zeigen. Zugleich werde dem Publikum der insgesamt schlechte Zustand der Meere vor Augen geführt, wenn etwa seit Jahrzehnten nicht verrottende Treibnetze Vögeln beim Nestbau zum Verhängnis werden. "Die Themen zu verlinken", Zusammenhänge zwischen menschgemachter Umweltzerstörung, Massentierhaltung, Zoonosen und Pandemien sowie der Klimakrise als größter Herausforderung deutlich zu machen, hatte auch von Hirschhausen gefordert. Was die ARD ebenfalls unter dem Namen "TopDocs" fasst, sind "abendfüllende", also 90-minütige Dokumentarfilme. Erneut wurde ein Wettbewerb um 300.000 Euro ausgelobt, für den Produzenten bis Anfang Juli Exposes einreichen können. Für 2023 vorgesehen sind Langfilme wie "Regieren am Limit", in dem sich Bundeskanzler Olaf Scholz, Robert Habeck und Annalena Baerbock äußern, "Hass gegen queer", "Songs of Gastarbeiter" sowie "100 Jahre Loriot". Da äußern sich Komödianten wie Hape Kerkeling und Helge Schneider über den 1923 geborenen genialen Humoristen. Mindestens 20 abendfüllende Dokumentarfilme sende die ARD pro Jahr, sagte Moderatorin El-Maimouni en passant. Diese Zahl ist freilich umstritten. Großenteils werden diese Filme am späteren Abend gesendet, wenn die Talkshows Sommerpause machen - weil große Teile des Publikums auch im Urlaub sind. Ob da tatsächlich Startseiten-Plätze in den Mediatheken einen Ausgleich bieten, wie lange überhaupt die Aufmerksamkeitsspanne nach als "Stream-Views" gezählten Klicks in den Mediatheken währt - das zählte zu den Fragen, die am "TopDocs"-Abend offen blieben. Ob es im quantitativ umfangreichen dokumentarischen Gesamtprogramm nicht auch Platz für puristische Konzepte gibt, die nicht sogleich durch Emotionalisierung fesseln wollen, sondern dem Publikum Zeit lassen, sich eine Meinung zu bilden, wäre eine weitere. Ob die Mediathek, in der schließlich keine Sendepläne eingehalten werden müssen, nicht eine Chance sein könnte, die strengen Formatgrenzen von 90, 45 oder 30 Minuten Dauer zu sprengen, noch eine. Kurzum: Die ARD präsentiert sich inzwischen problembewusst und lässt auch allerhand Kritik zu. Zwischenzeitlich eingespielte, vorab gefilmte Wünsche von Produzenten kritisierten so manches, etwa eine in der hierarchisierten ARD weiter zunehmende "Top-Down-Mentalität". Zugleich nutzt die ARD die zunehmende Fixierung auf die Mediathek als Ausspielkanal fürs jüngere Publikum (unter 50 Jahre) - auch geschickt, um am eingespielten linearen Sendekonzept möglichst wenig ändern zu müssen.

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