Historiker Magnus Brechtken über Medien und NS-Berichterstattung: "Eine Banalität, die lange bekannt ist"

Von Joachim Heinz (KNA)

MEDIENGESCHICHTE - 1983 machte der "Stern" die vermeintlichen Tagebücher von Adolf Hitler öffentlich. Die Geschichte des "Dritten Reiches" müsse teilweise umgeschrieben werden, hieß es damals. Die Sensation entpuppte sich als Luftnummer; die Kladden von Fälscher Konrad Kujau wanderten in einen Safe bei Gruner + Jahr. 40 Jahre später hat der NDR die Inhalte publik gemacht. Abermals geht ein - wenn auch deutlich kleineres - Beben durch die Presselandschaft.

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"Reschke Fernsehen"

Foto: ARD/NDR/KNA

München (KNA) Themen aus der Zeit des Nationalsozialismus sorgen auch bald 80 Jahre nach dem Untergang des "Dritten Reiches" zuverlässig für Schlagzeilen. Derzeit geistern gleich zwei Vorgänge durch die Presse. In den vergangenen Tagen stellte der NDR eine Version der gefälschten Tagebücher von Adolf Hitler online. 1983 hatte der "Stern" die Fälschungen aus der Feder von Konrad Kujau veröffentlicht und damit einen der größten Medienskandale in der Geschichte der Bundesrepublik produziert. Sodann gibt es - nicht zum ersten Mal - Diskussionen um den Reichstagsbrand vor 90 Jahren: Handelte der Niederländer Marinus van der Lubbe tatsächlich völlig allein oder hatte er Mittäter? Für beide Fälle ist Historiker Magnus Brechtken ein idealer Ansprechpartner. Er leitet eine Studie zur Geschichte des "Stern" zwischen 1948 und 1983, die der Bertelsmann-Konzern in Auftrag gegeben hat. Und als stellvertretender Direktor des renommierten Münchner Instituts für Zeitgeschichte kann er im Interview des KNA Mediendienstes einordnen, welche Rolle das Institut in der Diskussion zum Reichstagsbrand einnimmt. Mediendienst (MD): Herr Professor Brechtken, der NDR hat unlängst die gefälschten Hitler-Tagebücher von Konrad Kujau online gestellt (vgl. MD 8/23). Damit sind Sie erstmals öffentlich zugänglich. Der Politikwissenschaftler Hajo Funke bezeichnet in einem begleitenden Kommentar die Tagebücher als "Ausdruck von Holocaustleugnung". Vom NDR heißt es, Kujau sei tiefer in ein neonazistisches Umfeld verstrickt gewesen als bislang bekannt. Wie bewerten Sie das? Brechtken: Der Norddeutsche Rundfunk hat sich offensichtlich viel Mühe damit gegeben, den Kujau-Text zu entziffern, und jetzt, oh Wunder, stellt man fest, dass Kujau für ein Publikum schrieb, dem er was verkaufen wollte. Kujaus Lebensgeschichte ist seit Jahrzehnten gut bekannt. Er hat NS-Memorabilia an Rechtsextremisten und NS-Fans verkauft. Als er schrieb hat er sich daran orientiert, was die gern über Hitler lesen wollten. Und was "Stern"-Reporter Heidemann ihm gern abkaufen würde. Das ist seit 40 Jahren bekannt. MD: In der aktuellen Berichterstattung von NDR und weiteren Medien klingt das aber anders. Brechtken: Das ist wohl einem Bedürfnis nach dem vermeintlich Neuen, gar Sensationellen geschuldet. Auch hier gilt jedoch: Literaturkenntnis schützt vor Neuentdeckungen. Nur einige Beispiele: Erich Kuby veröffentlichte sein Buch über den Fall "Stern" und die Folgen kurz nach dem Skandal. Ebenso Manfred Bissinger mit "Hitlers Sternstunde" oder Robert Harris mit "Selling Hitler". Viele weitere Beiträge folgten seither. Oft zu "Jubiläen" wie 2008 von Michael Seufert oder 2018 durch Malte Herwig. Wir können darin lesen: Kujaus Stil, sein Ansatz und sein Vorgehen sind lange bekannt. Auch das Umfeld aus Altnazis, NS-Faszinierten und Neurechten ist darin regelmäßig beschrieben. Kujau bediente einen Markt, seinen Markt. MD: Blicken wir kurz zurück: Wie konnte es damals zu dem Skandal um die Hitler-Tagebücher beim "Stern" kommen? Brechtken: Das lag vor allem an der Geheimhaltung innerhalb des "Stern" und beim Verlag Gruner + Jahr. Nur wenige waren eingeweiht und die meisten hatten Dollarzeichen in den Augen. Das gilt übrigens nicht nur für den "Stern". Auch Rupert Murdoch kaufte die englischen Rechte aus verwandten Motiven. Aber Funktionieren konnte Kujaus Fälschung nur solange diese Gruppe der Eingeweihten klein blieb und keine allgemeine Prüfung von Texten und Materialien möglich war. Sobald die Kladden und der Text öffentlich wurden, musste sich herausstellen, dass es Fälschungen waren. Die Materialprüfung zeigte das ja dann sehr schnell. Aber auch die Textprüfung durch die offene Geschichtswissenschaft konnte das rasch erkennen. MD: Warum? Brechtken: Wer Hitlers lange bekannte Texte gelesen hatte, sah sofort die Widersprüche und all das Auffallende: Das Abschreiben bei Max Domarus, die Gegenüberlieferung bei Joseph Goebbels, die Unstimmigkeiten zum vielfach belegten Denken und Verhalten Hitlers, von seiner Ideologie bis zum Tagesablauf. Und wirklich jeder, der sich mal mit Hitler beschäftigt hatte, wusste: Hitlers Charakter und Lebensweise waren diametral anders als sie für solche handschriftlichen Notizen notwendig gewesen wären. Auch deshalb ist der Skandal ja sofort aufgeflogen. Das ließ sich in wenigen Tagen feststellen. Alle Theorien einer wirksamen Hitler-Verharmlosung durch die Tagebücher müssen ja von der Voraussetzung ausgehen, dass die Fälschung unerkannt hätten bleiben können. Das ist absurd. MD: Was verrät der aktuelle Umgang mit den Tagebüchern über den Medienbetrieb von heute? Brechtken: Es ist verwunderlich, dass hier ein solcher Aufwand betrieben worden ist für eine Banalität, die lange bekannt ist. Im Sinn des öffentlich-rechtlichen Auftrags hätte ich mir gewünscht, dass die Verantwortlichen sauber und rational gezeigt hätten, was wir seit 40 Jahren wissen. Damit lassen sich die gefälschten Tagebücher problemlos einordnen. Das ist dann allerdings weder neu noch irgendwie sensationell. MD: Kommen wir zu einem anderen Komplex, dem Reichstagsbrand. In den vergangenen Tagen hat Uwe Soukup unter anderem in der "Zeit" deutliche Zweifel an der von vielen Historikern vertretenen Auffassung angemeldet, wonach Marinus van der Lubbe vor 90 Jahren den Brand allein gelegt hat. Was halten Sie davon? Brechtken: Auch diese These ist weder neu noch undiskutiert. Vor wenigen Jahren hat Benjamin Carter Hett ein sehr umfangreiches, detailliertes und abwägendes Buch veröffentlicht, das die bekannten Argumente vorführt, ergänzt und gewichtet. Es ist offensichtlich, dass einige Ungereimtheiten gegen Marinus van der Lubbe als Einzeltäter sprechen. Zugleich wissen wir nicht, wer weitere mögliche Täter waren. Darüber lässt sich nur spekulieren. Besonders bei Erzählungen, die erst nach 1945 entstanden sind, sollten wir quellenkritisch vorsichtig sein. Zugleich können wir aufgrund der verfügbaren Quellen sagen, dass führende Akteure des NS-Regimes wie Hitler und Goebbels sich seinerzeit klar so verhalten haben, dass ihre Überraschung offensichtlich ist. MD: In der "Welt am Sonntag" geht Sven Felix Kellerhoff mit Gegnern der Alleintäter-These hart ins Gericht. Brechtken: Kellerhoff hat ein ganzes Buch dazu geschrieben, in dem er diese These vertritt. Die Zweifel, wie sie Carter Hett zeigt, bleiben gewichtig. Die verfügbaren Quellen lassen Eindeutigkeit nicht zu; es gibt zu viele Argumente, die uns zwingen, das weiter offen zu diskutieren. Wir müssen anerkennen, dass es keine eindeutige Antwort gibt. MD: Auch Soukup hat unlängst ein Buch zum Reichstagsbrand veröffentlicht. Dabei kommt das Institut für Zeitgeschichte nicht besonders gut weg. Soukup schreibt, dass ein gewisser Fritz Tobias in den 1960er Jahren die NSDAP-Mitgliedschaft des damaligen IfZ-Direktors Helmut Krausnick als Druckmittel gegenüber dem Institut nutzte. Tobias wollte die von ihm in einer "Spiegel"-Reihe vertretene Alleintäter-These wissenschaftlich adeln lassen. IfZ-Mitarbeiter Hans Mommsen soll damals die Aufgabe übernommen haben, einen Konkurrenten auszubooten, den das IfZ mit einer "Erschütterung" von Tobias Thesen beauftragt hatte. Brechtken: Was Soukup jetzt schreibt findet sich alles schon ausführlich und klar bei Carter Hett - deutsche Ausgabe 2016, ab Seite 468. Schon 2001 hat die damalige Institutsleitung des IfZ sich öffentlich zu den Vorgängen aus den 1960er Jahren geäußert und die Rolle von Hans Mommsen als inakzeptabel bezeichnet. Was Soukup jetzt als Entdeckung verkauft - übrigens ohne bei uns im Archiv gewesen zu sein - ist also nichts Neues und bezieht sich im wesentlichen auf die bekannte Interpretation von Hett. Wenn ich Soukup richtig verstehe, dann erwartet er vom IfZ eine Art Schiedsrichterfunktion auszuüben und die Kontroversen um den Reichstagsbrand irgendwie aufzulösen. Aber so funktioniert Wissenschaft nicht: Es gibt hier keine unumstößlichen Gewissheiten und gerade beim Reichstagsbrand sieht man ja, wie offen die Debatte ist. Vieles wird sich nach 90 Jahren kaum weiter aufklären lassen - und es braucht sicher keinen "Richterspruch" des IfZ. MD: Die Leiche von Marinus van der Lubbe ist vor kurzem exhumiert worden. Kann die Untersuchung neue Erkenntnisse über Reichstagsbrand und den Schauprozess gegen ihn liefern? Brechtken: Da müssen wir unterscheiden zwischen der Sicht auf den Prozess und die Debatte um die Alleintäter-These. Es war auffällig, dass van der Lubbe während der Verhandlungen wie in Trance wirkte. Insofern wäre es forensisch-medizinisch sicher von Interesse zu erfahren, ob sich auffällige Substanzen in seinem Körper nachweisen lassen, ob er etwa unter Drogen stand. Ob das für die Frage nach möglichen Mittätern relevant ist, erscheint mir wenig plausibel. Ich finde das aber auch nachrangig. MD: Weil...? Brechtken: ...doch etwas anderes viel wichtiger ist: Der Brand eröffnete dem NS-Regime die Möglichkeit, das Schreckgespenst einer revolutionären Umsturzsituation zu zeichnen und daraus machtpolitische Fakten abzuleiten. Millionen Deutsche hatten die NSDAP gewählt, deren SA-Truppen mit öffentlicher Gewalt alle Gegner niederprügelten. Millionen Deutsche waren dann nach der Brandnacht bereit, der Erzählung vom Staats-Alarm zu folgen, auf den man reagieren müsse. Die Gewalt der Straße schüchterte ein, faszinierte aber als Anbruch einer neuen Zeit. So waren viele bereit, aus einer empfundenen Bedrohung heraus zu akzeptieren, dass die Grundrechte der Weimarer Reichsverfassung aufgegeben wurden. Das ist die zentrale Zäsur. Und die Frage ist dann: Warum akzeptierten Millionen Menschen das einfach so? Welche Wurzeln hat diese Bereitschaft in der deutschen Geschichte? Warum war so vielen die Verteidigung der Rechte so wenig wert?

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