Warum soll das keine Familie sein? NDR-Hörspiel über die Werte einer Mutter mit homosexueller Tochter

Von Matthias Hannemann (KNA)

HÖRFUNK - Im NDR-Hörspiel "Die Tochter" nach einem Roman von Kim Hye-jin fürchtet sich eine Mutter vor dem Wort "homosexuell" - und muss sich doch daran gewöhnen. Ein vielschichtiges und atmosphärisch starkes Stück, das zwar in Südkorea angesiedelt ist, aber auch in aktuelle Debatten deutscher Haushalte passen kann.

| KNA Mediendienst

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"Die Tochter"

Foto: Alina Rohrer/NDR/KNA

Bonn (KNA) Die Besprechungen konnten besser kaum sein, als Kim Hye-jins südkoreanischer Bestseller "Die Tochter" aus dem Jahr 2017 im vergangenen Jahr in einer Übersetzung von Ki-Hyang Lee erschien. Besonders begeistert war die Hörspiel-Redaktion des Norddeutschen Rundfunks, der die scheinbar ruhige, tatsächlich aber schnell vor Anspannung vibrierende Geschichte nun in einer Fassung von Eva Solloch (Bearbeitung und Regie) und Michael Becker (Dramaturgie) präsentiert. Die Story dreht sich um eine Frau, die eine Frau liebt, ihre Mutter, die sich dafür schämt, und eine homophobe Gesellschaft, die viel von traditionellen Familienwerten redet, aber ihre Alten in den Pflegeheimen auf menschenunwürdige Weise behandelt. Das anderthalbstündige Stück lebt wie der Roman vom Kammerspiel-Charakter der Geschichte. Vor allem jedoch vom Akzent der südkoreanischen Schauspielerin Soogi Kang, die seit 1986 in Berlin lebt, für Film und Theater arbeitet und als Geschichtenerzählerin auftritt. Sie spricht im Hörspiel die Mutter und Erzählerin, eine erschöpfte Seniorin jenseits der sechzig, die sehr kühl und konzentriert formuliert und doch aufgewühlt ist; man merkt es an der überdeutlichen, nachdrücklichen Art, mit der sie die Worte ausbuchstabiert. "Die Tochter" ist die Geschichte ihres widerspenstigen Erwachens. Sie beginnt damit, dass die erwachsene Titelheldin (Kotbong Yang) aus Geldnöten wieder im Elternhaus einzieht und ihre Partnerin Rain (Kotti Yun) wie selbstverständlich mitbringt. Der Plot läuft sodann hässlichen Ereignissen in der Stadt entgegen, die den Erkenntnisprozess der Mutter beschleunigen. Das Gelungene an diesem kalkulierten dramaturgischen Bogen liegt daran, dass die völlig verständnislos auf das Liebesleben ihrer Tochter reagierende Erzählerin, die Rain immer nur abwertend "das Mädchen" nennt, am Ende zwar um Verständnis für die Gefühle der Tochter ringt. Doch sie kommt authentischerweise nicht aus ihrer Haut. "Vielleicht erlebe ich eines Tages ein Wunder und verstehe euch", wird sie zu Rain sagen. "Aber das kann eine Weile dauern. Ich weiß nicht, ob mir noch genügend Zeit bleibt. Aber bis dahin kann ich einfach nicht sagen, dass ich es verstehe. Damit würde ich meine Tochter aufgeben. Ihr für immer die Chance nehmen, ein normales Leben zu führen." Normal im Sinne dessen, was sie als konservative Mutter, die schon das Wort "homosexuell" als Bedrohung empfindet, für normal hält. Zum emotionalen Ritt wird das Hörspiel auch über eine Parallelhandlung. Sie spielt in dem Pflegeheim, in dem die Erzählerin über eine Leiharbeitsfirma beschäftigt ist. Sie schuftet und knechtet, kommt mit den Einnahmen als Witwe kaum über die Runden, erlebt den körperlichen Verfall der demenzkranken Greisin Tsen (Angelika Thomas), die keine Familie hat, und natürlich fließt auch diese Erfahrung in ihre Empörung über die Tochter mit ein, die als Lehrbeauftragte an der Universität weder einen festen Job noch einen Mann noch ein Kind als Altersvorsorge hat. Gleichzeitig beginnt die Erzählerin genau hier zu begreifen, dass eine Familie nicht aus Frau, Mann und leiblichen Kindern bestehen muss. Familie ist, wo Zuneigung und Fürsorge ist. Das Kind von den Philippinen, das Tsen einst finanziell unterstützte, könnte die Familie Tsens sein - wenn der überarbeitete Schlosser das nur begreifen würde. Das Heim könnte Tsen Familie sein, würde es nicht von einem menschenverachtenden Betriebswirt geführt, der Windeln in Streifen schneiden lässt, um Kosten zu sparen. Und die Erzählerin könnte theoretisch Rain als Teil ihrer Familie annehmen: "Mama, Rain ist meine Familie. Seit sieben Jahren sind wir eine Familie", sagt die Tochter. "Warum also sollte das, was wir haben, keine Familie sein?" Sie spricht mit ihrer Mutter recht ruppig. Ein cleverer Kniff: Die Sympathien gelten in der Sache der Tochter, aber dass es der Mutter schwerfällt, auf sie zuzugehen - das liegt auch an ihr. Überhaupt meint es Autorin Kim Hye-jin mit ihrem Bemühen, sich in die Perspektive der Mutter hineinzusetzen, recht ernst. Ein vielschichtiges Stück, wach bereits durch die Präsensform des Berichtes und auch atmosphärisch durch die wechselnden akustischen Kulissen ganz stark. Es mag in Südkorea angesiedelt sein und damit in einer Gesellschaft, in der Homosexualität noch nicht so akzeptiert ist wie in Westeuropa. Aber die Diskussionen, die Mutter und Tochter führen, die Gedanken, die der Erzählerin durch den Kopf gehen, das könnte durchaus auch eine Familie mit weniger liberal gesinnten Altvorderen in Deutschland sein.

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