Anatomie einer politischen Bewegung - 3sat-Doku liefert tiefe Einblicke in Strategien der AfD

Von Harald Keller (KNA)

FERNSEHEN - Der Dokumentarfilmer Simon Brückner und sein Team konnten über zwei Jahre hinweg unmittelbar Einblick nehmen in die parteiinternen Vorgänge der Alternative für Deutschland (AfD). Mit dem 3sat-Film "Eine deutsche Partei" gelang ihm ein aufschlussreiches Zeitdokument.

| KNA Mediendienst

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3sat-Doku "Eine deutsche Partei"

Foto: Simon Brückner/3sat/ZDF/KNA

Bonn (KNA) Allenthalben stellt sich die Frage, ob Parteien von den äußeren politischen Spektren in die Diskussionssendungen des deutschen Fernsehen eingeladen werden sollen. Im Dokumentarfilm "Eine deutsche Partei" (Produktion für ZDF/3sat und RBB; 29.03.23, 20.15 Uhr, 3sat) von Simon Brückner kommen Politiker der Partei Alternative für Deutschland (AfD) zu Wort. Selbstbestimmt, in ihrer eigenen Umgebung, ohne Widerrede, ohne Kommentar. Zwischen 2019 und 2021 ließen sich Funktionäre unterschiedlicher Ebenen von Kamerateams begleiten. Die in sechs Kapitel unterteilte 112-minütige Bestandsaufnahme ist aufschlussreicher als manch ein Talkshow-Auftritt eines AfD-Vertreters. Denn dorthin entsandt werden die geschmeidigen Wortführer der Partei mit dem rhetorischen Geschick, radikale Äußerungen, die selten vor laufender Kamera fallen, zurückzuweisen und zu überspielen. Den Protagonisten und Protagonistinnen des Films ist völlig bewusst, dass ihr Wirken aufgezeichnet wird. Als in einer Sitzung diesbezüglich Skepsis laut wird, wiegeln die Befürworter ab: "2022/23 wird das ausgestrahlt. Ich glaube, da hat das keinen großen Wert mehr." Schon eine Erkenntnis für sich: Politische Konzepte der Partei sind eher auf den Moment zugeschnitten als auf langfristiges Wirken ausgerichtet. Sehr schön nachzuweisen am Verhalten der AfD während der Corona-Pandemie. Anfangs gingen der AfD-Bundestagsfraktion die Maßnahmen nicht weit genug, dann kam der Schwenk und die Klage, die getroffenen Einschränkungen seien übertrieben. Brückners Film, der während der Corona-Monate entstand, bildet dieses Lavieren ab, auch die Zerrissenheit der Partei in dieser Frage. Beim 11. Bundesparteitag ruft Bundessprecher Jörg Meuthen zur Vernunft auf: "Ist es wirklich klug, von einer Corona-Diktatur zu sprechen? Wir leben in keiner Diktatur. Sonst könnten wir diesen Parteitag heute wohl auch kaum so abhalten. Lassen wir ruhig die im Regen stehen, die nur allzu gerne rumkrakeelen und rumprollen, weil sie sich in der Rolle des Provokateurs gefallen wie pubertierende Schuljungen, um vor allem der eigenen überschaubaren Blase zeigen zu wollen, was für tolle Kerle sie doch sind." Die Kameraleute fangen die Reaktionen ein. Offene Münder, entsetzte Blicke, ungläubiges Staunen. Später lautstarke Buh-Rufe, die den Beifall übertönen. Meuthens Rede stößt auf Kritik, bei den Parteistrategen, der Basis: "Er hat sich als was Besseres hingestellt, und er hat Leute wie mich zum Beispiel damit ganz schön verarscht. (...) Wenn man so vorgeht, spaltet man die Partei, und das möchte ich nicht. (...) Herr Meuthen ist Wissenschaftler, der hat eine bestimmte Art zu sprechen. Soll er haben, aber ich bin Schlosser. Und wenn ich irgendwie mich ausdrücken möchte, dann drücke ich mich so aus, dann 'prolle' ich vielleicht. Aber ich bin nicht blöd im Kopf. Ich hab' meine Meinung. Das ist das Entscheidende." Kontroversen gibt es in jeder Partei. Die obige Gegenüberstellung aber offenbart einen eigentümlichen Zwist. Die AfD pflegt und provoziert die Abneigung gegen vermeintliche Eliten, herausgekehrt in polemischen Beschimpfungen wie "verwahrloste grüne Bonzenkinder" und "links-rot-grün verseuchtes 68er-Deutschland". Obgleich Meuthen dieses denunzierende Vokabular selbst verwendet, findet die impulsive Ablehnung von Establishment, Ratio und Wissenschaft im Groll gegen ihn ein Ventil - er war Professor für Volkswirtschaft und zeitweilig im hessischen Finanzministerium tätig. Also bei entsprechender Sichtweise privilegiert und auf Abstand zu einfachen Parteimitgliedern. Doch Affekte ersetzen keine konstruktive Politik. Die bleibt die AfD - weniger eine Protest- als eine Trotzpartei - fortwährend schuldig. Obendrein ist sich die AfD in dieser Frage selbst nicht treu. Zur Führungsspitze der Partei gehören mit dem Ehrenvorsitzenden Alexander Gauland ein Jurist, früherer Staatssekretär und langjähriger CDU-Politiker sowie mit Alice Weidel eine promovierte Volkswirtin und Unternehmensberaterin. Brückners Dokumentarfilm hat den Vorzug, sich nicht auf die bekannten Köpfe der Partei zu beschränken. Die Kameraleute sind dabei, wenn eine Kandidatin von Haus zu Haus zieht, sie zeigen die Arbeit am Informationsstand, haben Zugang auch bei der innerhalb der Partei umstrittenen, vom Verfassungsschutz als "Verdachtsfall" eingestuften Jungen Alternative. Eine Diskussion über die damals neuen Wahlplakate verrät en passant, wie rasch die Zeitläufte sich ändern können. Ein Slogan lautete: "Recht und Freiheit tapfer verteidigen. Bundeswehr stärken." Ein ehemaliger Bundeswehroffizier wirft in die Runde: "Kein Mensch macht sich jetzt Gedanken um die Bundeswehr. Das kann man sich echt sparen." Im Frühjahr 2023 sieht das anders aus. Erstaunlich freimütig bekennen sich die AfD-Führungskräfte zu ihrer Symbolpolitik. In einer nichtöffentlichen Sitzung der Fraktion im Berliner Abgeordnetenhaus stößt die Forderung, jedes deutsche Klassenzimmer mit einer Nationalflagge und einem Grundgesetz auszustatten, auf verräterischen Widerspruch: "Sind wir denn mit allem im Grundgesetz einverstanden?" Die Frage muss gar nicht ernsthaft diskutiert werden, denn es handelt sich um ein strategisches Manöver. Die Fraktion hofft darauf, dass die anderen Parteien den Antrag ablehnen und hernach als Gegner des Grundgesetzes angeprangert werden können. Nach Ende der Dreharbeiten trat der vormalige Parteichef Jörg Meuthen aus der AfD aus mit der Begründung, der rechtsextreme Flügel habe die Partei übernommen. Diese Tendenz wird im Film hör- und spürbar. Manchmal ein wenig verkappt in Äußerungen wie: "Wir werden ordentlich eingreifen müssen", um diesen Staat zu retten. Oder auch offen in einem Vortrag des weit rechts stehenden und publizierenden Journalisten Michael Klonovsky. Seiner Ansicht nach unterscheiden sich "ethnische Kollektive" in ihren "Eigenschaften, Talenten und Mentalitäten". In seiner Weltanschauung existieren auch zwischen den Geschlechtern fundamentale Unterschiede, und es gebe "eine Rangordnung der Kulturen". Ein Parteimitglied sieht das AfD-Wählerspektrum rechts der CDU, eingeschlossen klassische Liberale, Konservative, Libertäre - "und das geht auch noch weiter." Meint: weiter nach rechts. Nach ganz rechts außen. "Eine deutsche Partei" ist eine gelungene Anatomie nicht nur der Partei Alternative für Deutschland, sondern der politischen Bewegungen, die sie speisen. Und somit ein Zeitdokument mit bleibendem Wert. Unabhängig vom Inhalt verdeutlicht dieser Film, dass die von Teilen der Fernsehkritik vertretene Haltung, das Dokumentarfilmgenre sei den politischen Talkshows überlegen, am Gegenstand vorbeigeht. Denn die Redaktionen der politischen Talkshows können sehr schnell, notfalls binnen Stunden auf aktuelle Entwicklungen reagieren. Dokumentarfilmer übernehmen eine andere Aufgabe. Sie haben die Möglichkeit zur langfristigen Recherche, zu Quellenstudien und zur Materialsammlung, damit zu einer umfassenden Vertiefung. Die ist Simon Brückner und seinem Team - neben ihm selbst waren drei weitere Kameraleute im Einsatz - gelungen.

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