Zwischen Neandertalern und Gegenwart - "Terra X" über drei Epochen in Europa auf der Höhe der Zeit

Von Christian Bartels (KNA)

FERNSEHEN - Drei historische "Terra X"-Dokumentationen mit dem umtriebigen Mirko Drotschmann nerven bloß am Rande mit unnötigen Reenactments. Vor allem bieten sie dicht und klug Gelegenheit, aus tiefer Vergangenheit in die Zukunft zu denken.

| KNA Mediendienst

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"Terra X - Europa in... "

Foto: Andre Götzmann/ZDF/KNA

Bonn (KNA) "Terra X" ist das Renommier-Format des ZDF für wissenschaftliche Themen im weitesten Sinne. Von Royals-Dokumentationen bis zu Shows mit Johannes B. Kerner wird der Markenname verwendet. Das Sub-"Label" "Terra X History" gibt es seit März überdies. Wenn nun (linear: ab 30.4. sonntags, 19.30 Uhr im ZDF; nonlinear: alle drei Folgen ab 26.4. für zehn Jahre in der ZDF-Mediathek) der aus den ZDF-Kindernachrichten "Logo!" und vom Funk-finanzierten YouTube-Kanal "MrWissen2go" bekannte Mirko Drotschmann in drei 45-minütigen "Terra X"-Sendungen mit aktuellen Forschungen zu drei sehr unterschiedlichen Epochen vertraut machen möchte, fehlt das "History"-Label allerdings. Auf dem Werbefoto ist der 37 Jahre alte Moderator neben vier "Langen Kerls" aus einem Potsdamer Verein zu sehen, die in Preußen-Uniformen des 18. Jahrhunderts als Soldaten des "Soldatenkönigs" Friedrich Wilhelm I. posieren. Sind die "Terra X"-Sendungen ein Beispiel dafür, wie mit jeder Menge Reenactments, also darstellerischem Nachstellen historischer Ereignisse in originalgetreuen Kostümen, Vergangenheit für den vermeintlichen Geschmack des Gegenwarts-Publikums produziert wird? Die Filme der 74,9-prozentigen ZDF-Tochter Gruppe 5 schöpfen von den ersten Sekunden an aus der Fülle der Mittel. Üppiger Kameradrohnen-Einsatz sorgt für imposante Luftaufnahmen. Natürlich ist Drotschmann oft selbst zu sehen: im Auto, auf einem Kran an der Kiesgrube in Lorsch, auf Felsen in der Schwäbischen Alb oder an der Loire, am Oberrhein... in dem sich dann das Maul eines Flusspferdes öffnet. Der kleine Filmtrick macht in netter Form darauf aufmerksam, dass sowohl echte Filmbilder als auch computergenerierte benutzt werden und idealerweise verschmelzen sollen. Die gezeigten Polarfüchse sind eher echt, die Mammutherden sind es nicht. Die Grenzen verschwimmen auch, wenn es in der ersten Folge "Europa in... Der letzten Eiszeit" dann um frühe Menschen geht. Dank Erbgut aus Knochen konnte das Aussehen des "Mannes von Neuessing"rekonstruiert werden, dessen Skelett im bayrischen Landkreis Kelheim gefunden wurde: "Er sah aus wie ein Afrikaner." Die frühen Homines sapientes, die vor 42.000 Jahren entlang der Donau nach Europa kamen, waren dunkelhäutig. Eine Computer-Animation zeigt das eindeutig. Die laut Abspann in Bulgarien produzierten Reenactment-Sequenzen mogeln sich um die Frage recht auffällig herum. Dabei fallen sie im 45-Minüter kaum ins Gewicht. Dank schneller, kluger Schnitte funktioniert das Zusammenspiel unterschiedlicher Ebenen. Weil Tierfigürchen von der Schwäbischen Alb, etwa eine rund 32 cm große "Löwenmensch"-Figur aus dem Ulmer Museum, sich groß vor der Kamera drehen, vermittelt sich die "Ausdruckskraft" solcher kleinen Original-Objekte, die als frühe Kunst der Menschheit gelten. Die Höhle im französischen Chauvet mit ihren berühmten Wandbildern, in der das "Terra X"-Team auch dreht, wurde ja sowieso für Touristen und zum Denkmalschutz nachgebildet. Drotschmann macht das auch deutlich. Er informiert auch, indem er Menschen und Institutionen aufsucht, die das Nachstellen alter Techniken kultivieren. So kommen noch wenig bekannte Forschungsergebnisse zur Geltung. Dass die Neandertaler weder so dumm waren, wie viele Jahrzehnte lang geglaubt wurde, noch ausgestorben sind - nicht-afrikanische Menschen tragen 1 bis 3 Prozent ihre Gene in sich, heißt es -, ist vielleicht noch geläufig. Dass die erste Kunst nicht auf der Schwäbischen Alb geschaffen wurde, sondern noch gut 10.000 Jahre früher im Harz, vermutlich nicht. Zumindest nennt ein Göttinger Archäologe aus Knochen geschnitzte, in der Einhornhöhle entdeckte Neandertaler-Artefakte "frühe Kunst". Beiläufige Anknüpfungspunkte an die Gegenwart laden außerdem zum Weiterdenken in die Zukunft ein, etwa wenn sich die Rheinlandschaft vom Anfang per wiederum offensichtlichem Trick zur Wüste wandelt. Zwischenfazit: Drotschmanns "Terra X" informiert dicht und auf der Höhe der Zeit. Bloß der unnötige Reenactments-Einsatz befremdet. Andererseits, wenn die Kamera die Mimik von Jägerinnen und Jägern von vor 42.000 Jahren einzufangen versucht, fällt es im ZDF vielleicht doch nicht aus dem Rahmen. Die zahllosen Mainzer Fernsehkrimis rücken die Blicke von Ermittlern und Verdächtigen ja auch immer groß ins Bild. Die weiteren Folgen bestätigen den Eindruck. In "Europa in... Der Zeit der Völkerwanderung" (Buch: Martin Carazo Mendez) mokiert sich Drotschmann selbst über Klischees "aus Sandalenfilmen". Ob das hier noch üppiger eingesetzte Reenactment-Material nicht selber solchen Produktionen entstammt, würde man zumindest per Einblendung gerne erfahren. Sicher besitzen Massenszenen vor imposanten Waldlandschaften Eigenwert. Doch Szenen, in denen sich Barbaren über ihnen unbekannte Geschenke freuen, würde mit indigenen Einwohnern Afrikas oder Amerikas in den 2020er Jahren niemand mehr ins Bild setzen. Hier freilich geht es um die Germanen, die keine Lobby haben, die es eher gar nicht als eine große Einheit gab. "Wilde Mischungen", "Clans", "Zusammenschlüsse von Kriegerverbänden" werden sie genannt. Dabei lassen sich sowohl gleiche Gene bei verschiedenen Stämmen nachweisen als auch die Tatsache, dass viele Stämme alles andere als ethnisch homogen waren - wie später im Film deutlich wird. Wenn es dann um Christianisierung geht und Drotschmann in einem gotischen Text in einem Archiv eine Zeile erkennt, die ihn ans "Vater unser" erinnert, zeigen sich freilich doch sprachliche Links in die deutsche Gegenwart. Solche kleinen Widerhaken, die zum Weiterdenken einladen können, ohne allesamt erklärt werden zu müssen, bilden eine Stärke der Filmreihe. Zumal sich Drotschmann immer mal wieder um Ehrenrettung sogenannter Barbaren bemüht, etwa der Vandalen, die mit dem später behaupteten Vandalismus wenig am Hut hatten. Während der nur in Deutschland "Völkerwanderung" genannten Epoche brachten sie die allerlängste Wanderung hinter sich, von diesseits des Rheins nach Nordafrika, mal offenbar zu Fuß mit Ochsenkarren, mal in gekaperten Schiffen. Hier verfällt der Film kurz auf die leider nicht konsequent verfolgte Illustrationsidee, statt Reenactments Animationen zu verwenden. Die Vandalen könnten Kriegs- oder Wirtschaftsflüchtlinge gewesen sein, Drotschmann spricht von "Push- und Pull-Faktoren". Auch da liegen unwillkürlich Parallelen zur Gegenwart mit Wanderbewegungen in umgekehrter Richtung nahe. Neuere Forschungsergebnisse werfen Extremwetter und Klimafolgen als Ursachen in die Gemengelage. Womöglich brachen die Vandalen nur deshalb auf, weil sie den zugefrorenen Rhein überqueren konnten. In "Europa in... Der Zeit des Absolutismus" (Buch: Nina Koshofer, Sabine Klauser) ergibt der "Terra X"-Mix viel Sinn: Drohnenflüge, die die Schlösser- und Palast-Landschaften von Versailles und Dresden von oben zeigen, ebenso wie Reenactment. Schließlich basierte die einem strengen Protokoll folgende "Petite levee", also das morgendliche halböffentliche Aufstehen des Königs, selbst auf Verkleidung und offensichtlich theatralen Prinzipien. Ohne Allongeperücke sah auch der "Sonnenkönig" fast wie alle anderen aus. Auch diese Folge bietet allerlei Anknüpfungspunkte. Entsprach Ludwigs XIV. Ansatz, durch Exporte eine positive Handelsbilanz zu erreichen, nicht der bundesdeutschen Staatsräson? Das Paradox, dass der französische König trotz der auf seinen Befehl in der Pfalz angerichteten, von der Heidelberger Schlossruine immer noch illustrierten Verwüstungen dennoch deutschen Kleinstaatsfürsten als Vorbild diente, kommt auch zur Sprache. Dass Augusts des Starken in Dresden angehäufte Schätze noch heute Begehrlichkeiten wecken, wie der Raubüberfall aufs Grüne Gewölbe 2019 belegte, schlägt noch eine Brücke. Dass die bürgerlich geprägte Republik der Niederlande noch mehr Reichtum anhäufte als absolutistische Monarchen, kann als erfreulicher Clou erscheinen. Bloß von den "Langen Kerls" hätte man gern mehr gesehen. Sie werden aber nur für eine Größen-Pointe und das Werbefoto verwendet. Dagegen scheinen Szenen mit einem angestrengt grübelnden Isaac-Newton-Kleindarsteller verzichtbar. Fazit: An diesen "Terra X"-Folgen gibt es wenig zu mäkeln, vom unnötigen Reenactment-Einsatz abgesehen. Dabei benötigt die differenzierte Erzählweise deren billige Emotionalität gar nicht. Vor allem, wie Drotschmann immer wieder unwillkürlich mögliche Anknüpfungspunkte setzt, vor historischem Hintergrund in Gegenwart und Zukunft weiterzudenken, zeigt diese ZDF-Produktion auf der Höhe der Zeit. Es handelt sich um eine der nicht sehr zahlreichen Produktionen, bei denen das öffentlich-rechtliche Fernsehen mal nicht auf Unterforderung seines Publikums setzt. "Alleinherrscher" sind mit dem Absolutismus nicht ausgestorben, sagt der Moderator mit Recht zum Schluss. Jenseits von Mitteleuropa gibt es in den 2020ern vielleicht sogar mehr und mächtigere Alleinherrscher denn je, und das in Europa beliebte Narrativ vom unaufhaltbaren Siegeszug der Menschenrechte seit der Französischen Revolution (die den Absolutismus beendete) muss auch hinterfragt werden, kann man sich dazu denken.

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