München (KNA) Der Abspann läuft, und das vorherrschende Gefühl ist: Verwirrung. Wer es nicht leiden kann, wenn ein Kriminalfall nach 90 Minuten nicht restlos aufgeklärt ist, der sollte besser die Finger lassen vom "Polizeiruf: Paranoia", den das Erste Programm am 11. Juni von 20.15 bis 21.45 Uhr ausstrahlt. Denn dieser unternimmt ein interessantes Experiment: Er überträgt sozusagen die Eigenschaften von Verschwörungserzählungen formal wie inhaltlich auf seinen Kriminalfall. "Paranoia" erzählt nicht einfach nur von solch wüsten Theorien und ihren Verfechtern - sondern macht deren Gefühlswelt spürbar, sorgt bewusst auch beim Publikum für Irritation und Ratlosigkeit. All die Kennzeichen der in den vergangenen Jahren exorbitant gewachsenen Zahl an Konspirationstheorien sind auch in diesem von Martin Maurer (nach einer Vorlage von Claus Cornelius Fischer) geschriebenen Krimi zu finden. Nicht in einer affirmativen Weise, sondern gebrochen, bespöttelt und kritisiert. Als da wären: Unsicherheit zu schüren, scheinbar Vertrautes infrage zu stellen. Der raunende Glauben an einflussreiche Kräfte im Hintergrund, die das Geschehen lenken und manipulieren. Die Überzeugung, dass Staat und Kapital in dreckige Geschäfte verwickelt sind. Die "Erkenntnis", dass alles mit allem zusammenhängt und dass niemandem zu trauen ist. Aber auch mysteriöse Verbindungen zwischen völlig unterschiedlichen Bereichen: Hier ist es ein Geflecht zwischen dem 9/11-Attentäter Mohammed Atta, syrischen Foltergefängnissen und einer KI-Firma, die vielleicht eine Tarnfirma des BND ist. In ihrem siebten - und letzten - Fall mit dem passenden Titel "Paranoia" bekommen es die Münchner Kommissarin Bessie Eyckhoff (Verena Altenberger) und ihr Kollege Eden (Stephan Zinner) also mit einer ziemlich wüsten Story zu tun. Die damit beginnt, dass zwei Rettungssanitäter zu einer Wohnung gerufen werden, in der eine niedergestochene Frau liegt; der vermeintliche Täter kann fliehen. Der Krankenwagen, mit seiner kollabierenden Patientin fast am Ziel angekommen, wird plötzlich in eine andere Klinik umgeleitet. Und ebenjene Patientin ist am nächsten Tag spurlos verschwunden. Schlimmer noch: In der Notaufnahme will niemand etwas von ihr mitbekommen haben, ihr Name ist nirgendwo registriert. Die zentrale Frage lautet fortan, ob diese Ereignisse dem wahnhaften Hirn einer kranken Person entsprungen sind, konkret: der psychisch auffälligen Rettungssanitäterin Sarah Kant (überzeugend: Marta Kizyma)? Oder entsprechen deren wilde Behauptungen der sogenannten Realität, ist ihr Eindruck einer ständigen Bedrohung nur vernünftig? Befinden wir uns hier also gewissermaßen im Kopf, im "Film" eines psychisch labilen Menschen - oder handelt es sich bei diesem Kriminalfall um reale, schmutzige Verflechtungen über den halben Erdball hinweg? "Paranoia" ist ein Film der Fragen, nicht der Antworten. An dessen Schlusspunkt dementsprechend längst nicht alles geklärt ist. Es ist ein Wagnis, das dieser Film eingeht: Befeuert er mit seiner mäandernden, uneindeutigen Erzählweise, seinen bewusst gesetzten Unsicherheiten und Lücken sowie seinem offenen, weitere Verwirrung stiftenden Ende womöglich den ein oder anderen Verschwörungstheoretiker unter den Zuschauern? Das steht durchaus zu befürchten, Menschen mit entsprechender Empfänglichkeit gibt es schließlich genug. Andererseits ist es ein fesselndes Experiment, das Regisseur Tobias Ineichen hier aufsetzt: Eine Reise in die Ängste und Emotionen eines von Paranoia - sei diese nun berechtigt oder nicht - geplagten Menschen. Zwar verliert der auch mit leichten, gelegentlich sogar humorvollen Szenen durchsetzte Krimi ab der Hälfte ein wenig an Stringenz und damit Spannung. Insgesamt aber ist dies ein besonderer, atmosphärisch starker, wagemutiger und damit würdiger letzter Fall für Bessie Eyckhoff. Sie gibt hier mit dem eher beiläufig hingesprochenen Satz, sich berufsmäßig "schon auch noch was ganz Anderes vorstellen" zu können, ihren Abschied vom Münchner "Polizeiruf".