Berlin (KNA) "Was ist Deep Journalism und kann er die Qualitätsmedien retten?" - unter diesem Titel entspann sich am 5. Juni im Berliner Wissenschaftszentrum für Sozialforschung (WZB) eine kontroverse Diskussion. Der öffentlich wenig präsente Chef des Bundeskanzleramts, Wolfgang Schmidt, war dabei eher interessierter Zuhörer. Vor allem ging es um die Ideen des "vertikalen" und "tiefen" Journalismus, wie sie der Medienunternehmer Sebastian Turner formuliert. Zusammen mit dem Medienwissenschaftler Stephan Russ-Mohl hat er jetzt das Buch "Deep Journalism. Domänenkompetenz als redaktioneller Erfolgsfaktor" (Herbert von Halem Verlag) herausgegeben. Der 56-jährige Turner ist bekannt als ehemaliger Werber (Scholz & Friends), Zeitungsherausgeber (des Berliner "Tagesspiegels" von 2014 bis 2020), aber auch als Politiker. 2012 wollte er als unter anderem von der CDU nominierter Kandidat Oberbürgermeister von Stuttgart werden. Inzwischen leitet Turner das Unternehmen Table.Media, das derzeit zehn Newsletter zu Themenfeldern wie Europa, China und Afrika herausgibt. Solche nur im Abonnement erhältlichen teuren Angebote "richten sich an ein spitzes, spezifisches Fachpublikum", so Diskussionsmoderatorin Ulrike Simon vom RBB. Zu den Mitbewerbern gehören das seit 2021 komplett zu Axel Springer gehörende US-Unternehmen "Politico" und Gabor Steingarts "Pioneer"-Newsletter. Turner und der Medienwissenschaftler Russ-Mohl haben für das Konzept Schlagworte wie "Domänenkompetenz", also Fachwissen, und "Verticals" ersonnen. Mit Letzterem sind Publikationen gemeint, die in ihren Themengebieten in die Tiefe gehen statt in die Breite, wie es Zeitungen und ihre Internetangebote im Konkurrenzkampf um schnelle Klicks notgedrungen tun müssen. "Die Elitemedien waren immer elitär, und jetzt werden sie immer dünner", umriss Turner seinen Kerngedanken: Qualitätszeitungen mussten und müssen wegen sinkender Einnahmen ihre Redaktionen verkleinern. Die verbleibenden Redakteure müssen sämtliche Ressorts bespielen, statt vor allem in ihren Fachgebieten zu arbeiten. Das heißt, "die Substanz wird schlechter", und das würden "als erstes die, die sich auskennen, erkennen". Doch die sind zugleich meist die zahlungskräftigsten Leser. Für dieses Publikum will Turners Unternehmen seine Newsletter anbieten. Als Gegenspielerin trat WZB-Präsidentin Jutta Allmendinger auf. "Wir in der Wissenschaft versuchen, von unten nach oben zu arbeiten", argumentierte sie gegen Turners "elitäres Modell" an, das sich nur an "Entscheider" richte. Besser wäre, Modelle für die vielen medial Abgehängten zu entwickeln, so Allmendinger. Sie konterte, dass die bestehenden Qualitätszeitungen eben auch darunter litten, wenn kompetente, hochspezialisierte Journalisten zu Firmen wie Table.Media wechselten. Eine nennenswerte Umverteilung des kompetentem Journalismus weg von den Leitmedien sehe er allerdings nicht, erklärte Russ-Mohl. Wesentlich dramatischer sei weiterhin die Abwanderung vom Journalismus in die PR. Laut Statistiken aus den angelsächsischen Ländern - die laut Russ-Mohl für Deutschland leider fehlten - betrage das Verhältnis von PR- zu Journalismus-Köpfen 5:1. "Alle, die ein bisschen Geld haben, investieren in PR", so Russ-Mohl. Sie betrieben dann Agendasetting, das den Journalismus vor sich her treibe. Turners Idee könnte dazu beitragen, "dass Journalismus wieder besser wird", so der Wissenschaftler. Außerdem gebe es einen "Trickle-down-Effekt". Was in den domänenkompetenten Newslettern steht, sickere nach und nach "in die Leitmedien und andere Medien" durch. Auch Turner verwahrte sich gegen den Elite-Vorwurf: Wenn Zitate zirkulierten und Verticals-Journalisten in den Talkshows auftauchten, sorge das für eine "Demokratisierung". Kanzleramtsminister Schmidt, von Moderatorin Simon als "Aktenfresser" vorgestellt, freute sich spürbar, dass die Diskussion mal nicht um Bundespolitik kreiste, und unterstützte Allmendinger. Es sollte immer "um die Herstellung einer allgemeinen Öffentlichkeit" gehen, sonst könnte "das allgemeine Lagerfeuer des Diskurses" in Deutschland genauso verschwinden, wie es in den USA bereits geschehen sei. Schon jetzt fühlten große Teile der Bevölkerung sich und ihre Meinungen in den klassischen Medien "nicht mehr abgebildet", so dass sie sich vom als "Elitenveranstaltung" wahrgenommenen Medienbetrieb abwenden würden. Schmidt sprach auch von "Herdentrieb" und bezog das vor allem auf den Krieg in der Ukraine. Zugleich teilte der Kanzleramtsminister Sorgen über die Erlösmodelle des traditionellen Journalismus und umriss die medienpolitischen Aktivitäten der Bundesregierung: Über die seit 2020 angekündigte Förderung der immer teureren Zustellung gedruckter Zeitungen befinde man sich "in sehr intensiven Gesprächen mit den Verlegern". Eine schnelle Klärung sei aber nicht zu erwarten, schon weil "das Problem der Staatsferne" zu lösen, "noch viel Kopfschmerz" erfordern werde. Und ohnehin müsse ja beim Aufstellen des künftigen Bundeshaushalts gespart werden. Am Rande warf Schmidt die Frage auf, wo denn die tiefe "Domänenkompetenz" bei den Öffentlich-Rechtlichen bleibe, "die wir alle durch unsere Gebühren ermöglichen" (und der Minister sprach tatsächlich von Gebühren statt vom Rundfunkbeitrag). Ob nicht Künstliche Intelligenz wie das vieldiskutierte Tool ChatGPT schon in naher Zukunft Aufgaben der fundierten Informationsvermittlung übernehmen werde, lautete eine gute Frage aus dem Publikum. So wie die meisten anderen Fragen konnte sie nicht tiefergehend beantwortet werden, aber nachhallen. Fazit: eine schön kontroverse, konstruktive Diskussion vor holzgetäfelten Wänden, die jedenfalls aufzeigte, dass im Journalismus viele sich laufend verändernde Probleme bestehen, für die es keine einfachen, eindeutigen Lösungen gibt - aber diskussionswerte Lösungsansätze.