Bonn (KNA) Am 25. August wurde im Foyer des Funkhauses des Deutschlandfunks in Köln der 72. Hörspielpreis der Kriegsblinden an Robert Schoen für sein Stück "Entgrenzgänger II - Tscherkesskij Magasin" verliehen. Nach Andreas Ammer ist Robert Schoen der zweite Autor, der den immer begehrtesten Hörspielpreis zum zweiten Mal bekommen hat. 2011 wurde Schoen für sein Stück "Schicksal, Hauptsache Schicksal" nach Motiven aus Joseph Roths "Die Legende vom heiligen Trinker" ausgezeichnet. 2019 war Robert Schoen mit einem Stipendium aus dem "Grenzgänger"-Programm der Robert-Bosch-Stiftung zu einer Reise nach Woronesch aufgebrochen, die er zu seiner Rundfunkgroteske "Entgrenzgänger" verarbeitet hatte. Das Ziel hatte er ausgewürfelt und herausgekommen war eben jene Hauptstadt des gleichnamigen Oblasts in der Nähe der ukrainischen Grenze. Weil es aber Abrechungsschwierigkeiten mit der Stiftung gab, musste er die Reise wiederholen. Das Reisedatum stand fest: April 2022, weil aber zwischenzeitlich Russland einen Angriffskrieg gegen die Ukraine begonnen hatte, waren die Reisevorbereitungen entsprechend schwieriger. Das Ziel wurde wieder ausgewürfelt. Nach insgesamt 638 Würfelwürfen stand das Reiseziel fest: Tscherkessk, die 130.000 Einwohner zählenden Hauptstadt der autonomen Republik Karatschai-Tscherkessien im Nord-Kaukasus. In hochkomischen Telefonaten mit dem russischen Konsulat und seiner Krankenversicherung klärte Robert vorab die Einreisebedingungen (schwierig) und den Rücktransport seiner Leiche im Todesfall (noch schwieriger). "Aber hat Dante nicht die Einladung in die Hölle angenommen", fragt sich Schoen, der sich in seiner Autorenproduktion für den Hessischen Rundfunk (vgl. MD 42/22) selbst spricht und holt sich außerdem Schützenhilfe bei dem Schriftsteller Wolfgang Koeppen, der 1958 eine empfindsame Reise durch die Sowjetunion gemacht hat und sie für den Süddeutschen Rundfunk zu einem Radiostück verarbeitet hat. Im Kaukasus wird Cognac getrunken und das nicht zu knapp, denn "Wodka macht aus allen Russen". Als Vielvölkerstaat hat Tscherkessien neben der Amtssprache Russisch vier offizielle Staatssprachen: Abasinisch, Karatschaiisch, Nogaisch und Tscherkessisch. Das macht die Verständigung nicht leichter, aber die germanistischen Fakultäten helfen gerne. Und mit Musikern die "Am Fenster" von City oder "Bohemian Rhapsody" von Queen singen, manchmal ohne die Sprache zu beherrschen, ergibt sich schnelle eine gemeinsame Verständigungsebene. Als Schoen seinen Gastgebern Reinhard Meys gerade wiederaufgenommen Friedenshymne "Nein, meine Söhne geb' ich nicht" vorspielt, erreicht er die Eigen-Resonanz der kaukasischen Gesellschaft - noch vor der Teilmobilmachung Putins, der seine Soldaten gerne aus den ethnischen Minderheiten seines Reiches rekrutiert. Die Juryvorsitzende des Hörspielpreises der Kriegsblinden, die Kulturwissenschaftlerin Gaby Hartel lobte: "'Entgrenzgäner II' spricht so übermütig dicht und dabei oft urkomisch, so unkokett naiv, entschieden unstrukturiert und verblüffend offen, dass wir, die seiner Spur folgen, unsere Vorurteile oder Halburteile außen vorlassen und uns sehr produktiv in diese nicht endend wollende Serie von Überraschungen verwickeln lassen." Direkte Fragen nach Angriffskrieg, nach dessen Vermeidbarkeit und der Propaganda werden vermieden. "Man sagt dem Gastgeber nicht, dass er eine krumme Nase hat", kommentiert das Robert Schoen mit einem der vielen kaukasischen Sprichwörter, die er von seiner Reise mitgebracht hat. Gaby Hartel weiter: "Die Kunst aber hat spätestens seit Cervantes, Jonathan Swift und Laurence Sterne den enormen Vorteil solcherart nachvollziehbare Fragen nicht zielstrebig beantworten zu müssen. Vielleicht besteht ihr Wert ja gerade darin auf Umwegen mögliche Antworten nur anzudeuten." Aus den 20 von den deutschsprachigen Rundfunkanstalten eingereichten und zwei von der Jury nachnominierten Stücken wählte die 13-köpfige Jury des Kriegsblindenpreises drei Finalisten. Neben dem Preisträgerstück von Robert Schoen war das die Nachnominierung "Mixing Memory and Desire" von Werner Fritsch, eine Produktion des Südwestrundfunks (SWR). Es handelt sich um den ersten Teil seiner akustischen Autobiografie des Filme- und Hörspielmachers, in der er aus seiner Kindheit in "Bayrisch-Sibirien" berichtet. Inzwischen arbeite er an "Mixing Memory and Desire 5", verriet er bei der Preisverleihung. Den Titel hat er den Langgedicht "The Waste Land" von T. S. Elliot entliehen. Für sein Hörspiel "Sense" war Fritsch 1993 mit dem Hörspielpreis der Kriegsblinden ausgezeichnet worden. Das andere Finalstück war "K.I.T.A. - Das Menschenmögliche" der Hörfunkautorin Carina Pesch und der Klangkünstlerin und Hörspielmacherin Antje Vowinckel, die sich für diese Koproduktion von Westdeutschen Rundfunk (WDR) und Deutschlandfunk Kultur "Antje Vauh" genannt hat. Mit dokumentarischen Mitteln und gescripteten Szenen wird der Alltag eine Kindertagesstätte geschildert, in der probeweise KI-gestützte Roboter (sogenannte Kid Bots) zur Betreuung eingesetzt werden. Hier wird technisch realisiert, was in einer auf Effizienz und Selbstoptimierung getunten Gesellschaft virulent ist. Das Projekt habe viel Recherche erfordert und auch zur Folge gehabt, dass die mitwirkenden Laien und Schauspieler ihre Haltung geändert hätten, berichtet Carina Pesch aus dem Produktionsprozess. Träger des Preises ist seit 1994 die Film- und Medienstiftung NRW und seit 2020 der Deutschen Blinden- und Sehbehinderten Verband (DBSV), die die Trägerschaft vom Bund der Kriegsblinden übernommen hat. Der Hörspielpreis der Kriegsblinden ist mit 5.000 Euro dotiert und war früher mit der ungeschriebenen Zusage versehen, dass das Preisträgerstück von den Landesrundfunkanstalten übernommen wird, so dass die Autoren von den Wiederholungshonoraren des bislang undotierten Preises profitieren konnten. Das ist vorbei, weil die meisten Sender überhaupt keine Hörspiele mehr übernehmen. Welchen Wert das öffentlich-rechtliche Radio ihrer eigenen Kunstform einräumen, kann man auch an der Präsenz der Hierarchen sehen. Wurde der Preis früher noch im Bundesrat in Anwesenheit von Ministern und einmal sogar des Bundespräsidenten vergeben, so verirrten sich in den letzten Jahren bestenfalls Programmdirektoren zur Verleihung des seit 1952 immer noch wichtigsten Hörspielpreises. Umso erfreulicher, das dieses Jahr Deutschlandradio-Intendant Stefan Raue eine Lanze für das Hörspiel brach. Denn während in der ARD gerade Reformpläne ventiliert werden, die die Autonomie der einzelnen Fachredaktionen beschneiden, habe das Hörspiel beim Deutschlandradio einen besonders hohen Stellenwert und damit auch eine Zukunft, so Raue. Gegenwärtig befindet sich die Hörspielredaktionen von Deutschlandfunk und Deutschlandfunk Kultur in Klausur um die künftigen Formen der Radiokunst zu diskutieren. Deutschlandradio übertrug auch die Preisverleihung live auf seinem Digitalkanal "Dokumente und Debatten" via DAB+. In seinem Schlusswort bedankte sich Robert Schoen bei den Männern und Frauen, die sich in den letzten hundert Jahren der wunderbaren Kunstform Hörspiel mit Herz und Hirn, Verstand und Leidenschaft gewidmet haben. Jener Gattung die vieles andere darstelle als "Audiothek-Originals", reine Podcasts oder mittelmäßige Serien. Analog zum Titel von Werner Fritsch Hörspiel "Mixing Memory and Desire" forderte Schoen nicht zu vergessen was das Hörspiel bereits geleistet habe, was es in der Hörerschaft noch zu erzeugen vermag - etwas das sich nicht an Klickzahlen messen lasse.