Bonn (KNA) Als am 26. Juli der Schriftsteller Martin Walser verstarb, änderte Das Erste sein Programm und zeigte einen filmischen Nachruf. Walsers schriftstellerisches Wirken wurde gewürdigt, sein politisches Engagement. Seine Herkunft, wesentlich für sein Werk, war Thema, auch seine Anfänge beim Hörfunk. Ausgeblendet blieb allerdings Walsers Tätigkeit beim Fernsehen. Dabei ist sie nicht nur für sein späteres Schaffen relevant, sondern eine Leistung für sich, denn Walser gehörte mit eigenen Ideen und kreativen Leistungen zu den Pionieren deutschen Fernsehschaffens. In einem Empfehlungsschreiben an die Harvard Universität aus den 1950er Jahren ließ Fritz Eberhard, damals Intendant des Süddeutschen Rundfunks (SDR), die Amerikaner wissen, Martin Walsers Arbeit werde sehr geschätzt: "Speziell im Fernsehen hat er große Pionierarbeit geleistet." Der Schriftsteller selbst ist jedem fernsehfeindlichen Dünkel stets vehement entgegengetreten. In der Zeitschrift "Magnum" glossierte er 1959: "Meine Freunde haben keinen Fernsehapparat. Sie sind darauf ein bisschen stolz. Zumindest lassen sie mich fühlen, dass sie von mir alles andere erwartet hätten als in meinem Wohnzimmer diesen Glanzkasten mit dem blöden Zyklopenauge anzutreffen." Noch 2007 musste Walser dem Interviewer Jan Freitag von der "Zeit", der den Schriftsteller in den Reihen der Fernsehgegner vermutete, erklären: "Ich habe meine Laufbahn mit Radio und Fernsehen begonnen. Beim Süddeutschen Rundfunk habe ich alle Abteilungen von Unterhaltung über Politik bis Kultur durchlaufen. Erst als ich merkte, dass Fernsehen mit dem Schreiben unvereinbar ist, habe ich meine aktive Beteiligung beendet, bin aber Berater geblieben und jeden Monat zu den Programmkonferenzen gefahren. Hamburg, Köln, München, Berlin. Ich war also immer dabei." Schon aus philologischen Gründen dürfte Walsers Fernsehzeit nicht ausgeklammert werden. Erfahrungen aus der Stuttgarter Zeit beim Süddeutschen Rundfunk, heute SWR, fanden Eingang in die Handlung seines ersten Romans "Ehen in Philippsburg". Die Hauptfigur Hans Beumann arbeitet als Redakteur für einen Branchendienst, neudeutsch Newsletter, dessen Titel "programm-press" an die von Karl Heinz Rossing zwischen 1953 und 1966 herausgegebene Fachkorrespondenz "fff-press" erinnert. Beumanns Gesprächspartner Dr. ten Bergen hat den von Walser sehr geschätzten SDR-Intendanten Fritz Eberhard zum Vorbild. Auch der TV-Regisseur Michael Pfleghar, mit dem Walser oft und sehr eng zusammenarbeitete, lieferte Inspirationen. Seit 1949, schon während seiner Tübinger Studienzeit, hatte Walser auf Vermittlung der Kommilitonen Helmut Jedele und Hans Gottschalk für den Stuttgarter Hörfunk arbeiten können. Der theatererfahrene Walser schrieb kleine Szenen und satirische Texte, wurde Reporter und berichtete aus Politik und Kultur und in der Reihe "Schicksale unserer Zeit" über Obdachlose, Kriegsheimkehrer und Menschen, denen Rechte verweigert wurden oder die Opfer staatlicher Willkür geworden waren. Als Autor und Regisseur von Hörspielen hatte Walser Gelegenheit, seine keineswegs aufgegebenen literarischen Ambitionen zu verfolgen. Im September 1953 wurde Helmut Jedele beim SDR zum Fernsehbeauftragten ernannt. Eigentlich hatten Jedele und Martin Walser gemeinsam die Führung übernehmen sollen, doch es war nur ein Posten zu vergeben. Zu dem Zeitpunkt liefen die technischen und organisatorischen Vorbereitungen zur Aufnahme des Fernsehsendebetriebs bereits seit über einem Jahr, erste Versuchssendungen waren produziert worden. Intendant Eberhard hatte bewusst eine junge Truppe zusammengestellt, die das TV-Programm entwerfen sollte. Hans Gottschalk wurde Dramaturg, Heinz Huber verantwortete die dokumentarischen Sendungen. Martin Walsers Aufgabengebiet waren "Besondere Sendungen". Scharfe Trennungen zwischen den Ressorts gab es noch nicht, Räumlichkeiten und Personal waren überschaubar. Der frühere SDR-Intendant und Medienhistoriker Bausch schrieb im Rückblick auf die Verhältnisse: "Die Schar der Mitarbeiter war so klein, dass jeder den anderen genau gekannt hat." Walser, so heißt es in einer Jubiläumsbroschüre des Süddeutschen Rundfunks, war das "Enfant terrible" der Gruppe, ein "temperamentvoller Anreger der Fernsehabteilung". In provisorischen, unzureichenden Studios begann man, Sendeformen zu erproben. Studienreisen führten nach Hamburg, wo Veteranen des nationalsozialistischen Vorkriegsfernsehens die Wiederaufnahme des Sendebetriebs anstrebten und zugleich die britische Militärführung ein Rundfunksystem nach dem Vorbild der BBC zu installieren suchte. In London hatte sich das Fernsehen bereits 1946 zurückgemeldet. Insofern waren die Briten den Deutschen technisch wie auch programmpolitisch um einiges voraus. In seinen Tagebüchern schreibt Walser: "Mit Dr. Helmut Jedele und Hans Gottschalk wird die Hamburger Fernsehtechnik studiert." Martin Walsers intensives Interesse am Fernsehen lässt sich aus seinen Rezensionen englischsprachiger Sachbücher zum Thema herauslesen, wie sie auch belegen, dass er bereits eigene Gedanken zum Medium entwickelt hat. In einer Besprechung des Buches "Techniques of Television Production" von Rudy Bretz notiert Walser beispielsweise, dass es viel besser sei, "das Material zu beschreiben, gewissermaßen die erweiterte Inventarliste eines Studios zu geben, als tiefsinnige Dramaturgien zu erfinden. Besser, weil das Fernsehen sich zuerst einmal seiner Handwerksmittel bemächtigen muss, bevor man es zum Gegenstand von Struktur- und Grundlagenbesinnungen macht." Die Stuttgarter Fernsehanfänger lernten. Auch, wie man es besser macht. Sie stürzten sich in die Praxis. Ab November 1954 waren dem Gemeinschaftsprogramm der ARD monatlich drei vollständige Abende zuzuliefern. Martin Walser agierte in allen Sparten. Er schrieb weiterhin satirische Texte, führte Regie bei Live-Sendungen und Filmaufnahmen, leitete Diskussionssendungen. Er bearbeitete Bühnenstücke wie Nicola Manzaris "Zuviel des Guten", die damals im Fernsehen live aufgeführt wurden und nicht wiederholbar waren. Als erster ARD-Sender zeigte der SDR ein Stück von Bert Brecht, man adaptierte Jean Anouilh (mit Liselotte Pulver), Arthur Miller und produzierte 1957 unter Beteiligung des Autors Friedrich Dürrenmatt mit "Der Richter und sein Henker" den ersten Fernsehfilm des deutschen Fernsehens, dem allerdings mehrere Versuche filmischer Umsetzungen vorausgegangen waren. Bemerkenswert daran, dass Dürrenmatt noch 1953 die Mitwirkung beim Fernsehen abgelehnt hatte. Seine Begründung, so damals im Fachblatt "Fernsehen" nachzulesen: Diese neue technische Möglichkeit sei "ein gefährliches Geschenk, das nur allzu sehr geeignet sei, Instrument der Vermassung und der Massenführung zu werden." Martin Walser dagegen konzipierte und inszenierte Ballettaufführungen, Reportagen, einen Schmalfilmwettbewerb. Er führte Wort- und Synchronregie, regelte am Mischpult den Ton. Gemeinsam mit dem späteren "Klimbim"-Erfinder Michael Pfleghar - damals gerade einmal Mitte 20 - entwickelte er die Form des Fernsehmusicals, bei dem Gesangs- und Tanzeinlagen im Freien gefilmt wurden, beispielsweise auf dem Stuttgarter Killesberg. Die Musik lieferte das Hazy Osterwald Sextett. Die erste Sendung dieser Art war "Der Schallplattendieb". Die Zeitschrift "Hör zu" (noch getrennt geschrieben) urteilte damals: "Diese muntere Mischform ist natürlich auch sehr fernsehgemäß. (...) Das war auf Anhieb schon fast gelungen." Generell nahm die zeitgenössische Kritik die Programme der "Stuttgarter Schule" sehr wohlwollend auf. "Man sollte immer am Empfänger sitzen, wenn Stuttgart das Abendprogramm bestreitet; selbst wenn nicht immer alles glückt, es ist stets interessant", schrieb Kurt Wagenführ, der Nestor der deutschen Fernsehkritik. Auch der Regisseur Martin Walser fiel ihm positiv auf. Wagenführ lobte: "Wie sauber war die Regie der Pantomime "Die Blaue Blume" mit Jean Soubeyran! Da saß jeder Kameraanschluss, jeder Schnitt, jeder Übergang - und diese wunderschöne Ausleuchtung!" Zwei Sendungen gilt es besonders hervorzuheben. Peter Adler, mit Walser seit Studienzeiten freundschaftlich verbunden, war im Herbst 1955 in Paris auf die Notlage jüdischer Emigranten höheren Alters aufmerksam geworden, die vor dem NS-Regime hatten flüchten müssen. Er widmete dem Thema das Hörfunk-Feature "Die Vergessenen" und setzte sich zum Ziel, Spendengelder zur Verbesserung der Lage dieser Bedürftigen einzuwerben. Die SDR-Fernsehabteilung gab Adler Gelegenheit, in einer TV-Reportage über die Existenznöte der alten Menschen zu berichten. An die Ausstrahlung des Films schloss sich eine live ausgestrahlte Diskussion an. Als unmittelbare Folge stellte die Bundesregierung Hilfsgelder in Höhe von einer Million D-Mark bereit, von privater Spendern kam eine weitere halbe Million, zusammen nach heutiger Währung circa 3,8 Millionen Euro. Mit den Geldern konnten in Paris Einzelwohnungen und ein Wohnheim finanziert werden. Martin Walser war an der Produktion des Films beteiligt und leitete die Gesprächssendung. Selbst drehte er 1957 die Reportage "Polen - Aufbruch im Osten". Thema war der gesellschaftliche und wirtschaftliche Wandel unter dem reformerischen Parteichef Wladyslaw Gomulka. Walser leistete sich aber auch eine Abschweifung und erinnerte an die Vernichtung des Warschauer Ghettos durch deutsche SS-Einheiten. Dieser knappe Überblick lässt vielleicht erkennen, dass eine Werkschau Walsers Fernsehschaffen, das ja über den genannten Zeitraum hinaus weitergeführt wurde, nicht ausklammern darf. Ebenso wenig wie seine Kinodrehbücher. Die sind dann noch einmal ein ganz anderes Thema für sich.