Perspektive der Macher - "Siehst du mich?" ist ein Sittengemälde der Social-Media-Ära

Von Christian Bartels (KNA)

DOKUMENTATION - Carolin Genreiths "Siehst du mich? - Großwerden als Social Media Star" ist sowohl ein in seiner formalen Strenge sehenswerter Dokumentarfilm als auch äußerst aufschlussreich, was die Bedeutung Sozialer Medien im Alltag angeht.

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"Siehst du mich? - Großwerden als Social Media Star"

Foto: CORSO FILM/SWR/KNA

Bonn (KNA) Die öffentlich-rechtlichen Medien und Social Media, also die Plattformen und Apps der gigantischen Konzerne: Das ist ein heiß umstrittenes Thema. Müssen ARD und ZDF auf allen Plattformen gut sichtbar vertreten sein, um auch junge Leute (die zu ihrer Finanzierung ja beitragen dürfen) zu erreichen? Oder machen sie im Gegenteil die turbokapitalistischen Konzerne noch stärker und schwächen sich selbst, wenn sie Rundfunkbeitragseinnahmen einsetzen, um hochwertige Inhalte exklusiv für Plattformen zu erstellen, und ihre Beitragszahler animieren, auch dort Mitglied zu werden? Darüber lässt sich endlos diskutieren. Schon dadurch heischt der Dokumentarfilm "Siehst du mich? - Großwerden als Social Media Star" (ab dem 1. September in der ARD-Mediathek, Ausstrahlung am 6. September, 22.50 Uhr im Ersten) Aufmerksamkeit. Der Neunzigminüter ist eine Offenbarung, wie sich gleich nach dem Vorspann zeigt. Dieser Vorspann selbst ist noch im gewohnten Modus des formatierten Fernsehens gehalten: Viele kurze Sequenzen sollen gespannt machen auf das, was kommt. Sie zeigen die "Stars", die porträtiert werden inklusive wichtiger Aussagen von ihnen. Sowie Herzchen und andere ins Auge springenden Symbole, mit denen Soziale Medien arbeiten. Flotte Gute-Laune-Musik hält all das zusammen. Schließlich wird auch die Ästhetik des Format-Fernsehens längst von Sozialen Medien geprägt. Sobald der Vorspann endet, endet diese Musik, und es beginnt eine konzentrierte Beobachtung von Menschen, wie sie in der klassischen Dokumentarfilm-Schule gelehrt wird. Regisseurin Carolin Genreith verzichtet weitgehend auf Musik oder schnelle Schnitte und vor allem komplett auf den allwissenden Off-Kommentar, wie er in kürzeren TV-Doku-Formen meist alles beherrscht. Schon das schafft im durchformatierten Fernsehen Aufmerksamkeit, und das Thema "Soziale Medien", in denen viele Videos inzwischen kaum länger als eine Minute dauern, setzt ganz besonders Kontraste. Offenkundig handelt es sich um eine Art Langzeit-Beobachtung, die ihre unterschiedlich jungen Protagonisten über längere Zeiträume ihres umfangreichen digitalen Schaffens beobachtet hat. Daher sind unterschiedliche Phasen im Leben dieser jungen Menschen zu sehen, die in so gut wie jedem Lebensabschnitt gefilmt wurden (und das lange schon selber tun). In ihrem Alltag im Familien- und Freundeskreis gehören das Sich-Inszenieren und -Filmen jeweils wesentlich dazu, ebenso wie das Zählen von Interaktionen und Lesen von Kommentaren. Wenn etwa Tasha Kimberly sich beim Kochen, Tanzen und Singen in der Küche filmt und über das Gefilmtwerden für den Dokumentarfilm räsoniert, wird deutlich, dass es den - oft beschworenen - Wert der Authentizität tatsächlich gibt. So wie die gezeigten Social-Media-Stars sich selber ziemlich pausenlos selbst filmen, lassen sie sich auch von Dritten filmen. Ähnlich oft sehen und hören sie ihre eigenen Produktionen an, neue wie ältere plus das Material, aus dem die neuesten entstehen sollen. Auch das kommt ausgiebig im Film vor - inklusive der Geräte, der Smartphones oder Fernseher. Die Zwillinge Heiko und Roman Lochmann, die einst als "Die Lochis" auf YouTube bekannt wurden, diesen Namen aber abgelegt haben, sind die erfahrensten der Protagonisten. Sie sehen sich ihre Musikvideos gerne vom Sofa aus beim Pizza-Essen auf einem großem Flachbildfernseher an. Im Dokumentarfilm heißt das, dass der Sound immer etwas scheppert und die Videos das Bildfeld nie komplett ausfüllen. Die Realität setzt den Rahmen. Das ist ein guter Weg, um solche Social-Media-Clips nicht-affirmativ zu dokumentieren. Emilia Horn, anfangs noch 14 Jahre jung und später in der Kulisse ihrer Familienfeier zum 16. Geburtstag zu sehen, ist die zweite Protagonistin. Am Anfang demonstriert sie freundlich einem anderen Mädchen, wie dieses sie per Smartphone filmen soll. Oder ist das andere Mädchen ihre Mutter, die ihr ziemlich ähnlich sieht? Tatsächlich, Emilia wird vor allem von ihrer Mutter gefilmt. "Man sieht dich die ganze Zeit, kannst Du bitte ins Wasser springen?", bittet sie später im Urlaub am Meer, aus dem selbstredend auch gepostet wird, ihren kleinen Sohn. Das ist nur eine von zahlreichen Szenen, die so beiläufig wie aussagestark zeigen, wie einfach und omnipräsent das Filmedrehen geworden ist. Nach gut 20 Minuten ist eine Frage von außen zu hören, offenbar von Filmautorin Genreith, die sich - anders als Presenter und Reporter im Format-Fernsehen - selber nie im Bild zeigt. Was mitunter zu hören ist, sind kluge Fragen, die gute Antworten hervorbringen. "Inhalte verlieren immer mehr an Bedeutung. Es wird alles so gleichgültig irgendwie", sagen die Lochmann-Brüder etwa über das tägliche Posten auf Kanälen wie Instagram und TikTok, das ihrem gelernten Modell, lange an einem wöchentlichen YouTube-Video zu arbeiten, nicht mehr entspricht. Einmal bringen die Lochmanns auf den Punkt, was einem beim Zuschauen schon schwante: "Mittlerweile sind die Eltern die, die länger am Handy sind ..." Während in der Digitalära Geborene wie die einstigen Lochis wissen, dass man in zwölf Stunden ohne Handy auch nichts verpasst, hat der Suchtfaktor der Sozialen Medien ältere Generationen erfasst. Unmerklich und klug zieht der Film die Perspektive auf. Nachdem die Protagonisten zunächst im Familienkreis zu sehen waren, gerät dann ihr professionelles Umfeld, in dem sie Geld verdienen, in den Blick. Die Lochmanns geben Konzerte und drehen zu ihren (für Nicht-Fans gewöhnungsbedürftigen) Poprock-Liedern Musikvideos, für die viele willige junge Leute sich gegenseitig küssen sollen ("scheißegal, wie"). Tasha würde das Angebot, für die Eissorte "Magnum" zu werben, nur annehmen, wenn die nicht mehr zu Nestlé gehört. Sie achtet darauf, dass in ihrem "Haupt-Feed" auf Instagram Werbung nur vorübergehend zu sehen ist. Emilia lässt inzwischen ihren Account ruhen - wegen des Abiturs, aber auch, weil ihr das Posten nicht mehr so viel Spaß bereitet wie früher. Während sie früher stets das Positive betonte und auch dafür bekannt wurde, lässt sie nun einmal fallen: "Ich habe auch so viel Hate bekommen." Das wundert ihre Mutter, der nur bewusst war, dass Emilia als Vierzehnjährige von Männern gebeten wurde, ihnen mehr Bilder in weniger Kleidung zu schicken (woraufhin die Mutter ihnen antwortete und das "Support-Team" informierte). Insofern ist "Siehst du mich?" natürlich kein Film, der das in seinen Ausmaßen kaum zu überblickende, analytisch kaum zu fassende Phänomen Social Media umfassend zu schildern versucht. Zahlreiche Aspekte, über die pausenlos diskutiert wird, fehlen oder kommen kaum vor. Um Hass und Hatespeech, die zu bekämpfen sich ja auch Gesetze wie der neue Digital Services Act der EU anschicken, geht es nur am Rande. Dafür erfährt man, dass sich Tasha Kimberly in ihren Videos gegen Hass wehrt (sofern man nicht schon ihr Fan war und davon wusste). Nun aber wurde sie auf TikTok "wegen Mobbing" gesperrt, erzählt sie in die Film-Kamera. Dabei dreht sie gar keine Hassvideos, sondern verwendet bloß vorhandene neu. So etwas aber wissen die Algorithmen und Instanzen, die für Sperrung und Löschung zuständig sind, meistens nicht. Doch Kimberly verliert so große Teile ihrer Reichweite, für die sie nach eigenem Ermessen hart gearbeitet hat. So kommt die infrastrukturartige Bedeutung, die Plattformen aus Kalifornien oder China auch in Deutschland längst besitzen, ohne dass es leicht wäre, sich hier über ungerechte Maßnahmen wie Sperrungen zu beschweren, zur Sprache. Die Macht der geschäftsgeheimen Algorithmen, die allerhand engagierten Machern, aber auch aufwühlenden, emotionalisierenden Inhalten zweifelhafter Qualität viel Aufmerksamkeit, Reichweite und somit auch Einnahmen bescheren, wird wiederum überhaupt nicht hinterfragt. Wer von Sozialen Medien profitiert, stellt solche Fragen offenkundig gar nicht. Sind Social Media also gut oder schlecht? Am Ende singen die Ex-Lochis ihre Antwort: Ja und nein, Social Media werden nicht weggehen, lautet sie ungefähr. Genau aus diesem Hintergrund ist "Siehst du mich?" (Corso Film/SWR) für alle, die an Diskussionen über die großen Plattformen teilnehmen wollen oder müssen - also für alle, denn ihre Bedeutung lässt sich gar nicht mehr überschätzen - ein in seiner formalen Strenge und inhaltlichen Ausgeruhtheit absolut sehenswertes Sittengemälde der Ära, in der sogenannte Soziale Medien sich auch in der deutschen Alltagsgesellschaft breit etabliert haben.

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