Wo täglich Tausende durch eine sehenswerte Seele wandeln - Neuschwanstein-Doku auf Arte

Von Christian Bartels (KNA)

DOKUMENTATION - Der Arte-Dokumentarfilm "Neuschwanstein - Ludwigs Traum, Ludwigs Tragödie" möchte nicht selbst spektakulär sein, sondern lässt sich auf sein spektakuläres Sub- wie Objekt ein. Und wird daher überdurchschnittlich aufschlussreich.

| KNA Mediendienst

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"Neuschwanstein - Ludwigs Traum, Ludwigs Tragödie"

Foto: Loopfilm/ZDF/Arte/KNA

Berlin (KNA) Die meisten Menschen, die sich für Schloss Neuschwanstein interessieren, kennen es. Warum es dennoch Sinn ergibt, eine neue Dokumentation darüber zu drehen, zeigt der 90-Minüter vom ersten Moment an: Dank Drohnen sind Luftaufnahmen seit wenigen Jahren in ungeahntem oder zumindest aus Kostengründen bis dahin kaum vorstellbarem Ausmaß möglich. Und das bayerische Schloss, das auf rund 1.000 Metern Höhe mit seinen Türmchen und Zinnen weiter aufragt, bietet sich umso mehr dafür an, weil sich von weiter oben erst richtig zeigt, wie es im Zusammenspiel mit Bergen, Felsen und Seen in der Landschaft prangt. Solche Perspektiven können die rund 1,5 Millionen Besucher pro Jahr so nicht wahrnehmen - zumal diese Zahl sich auf rund 6.000 Touristen pro Tag herunterbricht. Daher entgeht Besuchern auch vieles von der aus zahllosen Wandgemälden, Textilien, Möbeln und weiteren Zier-Objekten nicht zuletzt in Schwanen-Form bestehenden Innenausstattung. Da die Besucherströme das Schloss an die "Leistungsgrenze" brachten, arbeiten nun bis zu acht Gewerke gleichzeitig im selben Raum bei laufendem Betrieb an der rund 20 Millionen Euro teuren Restaurierung. Während also viel gut zu sehen ist, erfährt das Publikum durch den Off-Kommentar, der nur manchmal ein bisschen sehr ins Schwärmen gerät ("Dieses Gesamtkunstwerk entwickelt eine magische Anziehungskraft"), sowie durch klug ausgewählte Experten allerhand aus der gut 150-jährigen Geschichte des Bauwerks und dem nur vier Jahrzehnte währenden Leben des Bauherrn. Ludwig II. war vor allem im nahen, niedriger gelegenen Schloss Hohenschwangau aufgewachsen, das aber ebenfalls kein altes Schloss, sondern erst unter seinem Vater errichtet und mit rittertümelnden Mittelalter-Motiven ausgemalt worden war. Mit achtzehn unvorbereitet auf den Thron gelangt, ließ Ludwig zunächst in seiner wachsenden Hauptstadt München Bauten errichten, so wie seine Vorfahren die Maximilianstraße und die (nach Ludwig I. benannte) Ludwigstraße. Erst als Pläne eines von Gottfried Semper innovativ, aber auch ziemlich teuer geplanten Festspielhauses an den Kosten und an Widerspruch scheiterten, also an der Gewaltenteilung, die Ludwig sowieso zuwider war, verlegte der König sich darauf, an markanten Orten im Land aus seiner eigenen Königskasse Schlösser in Königsklasse erbauen zu lassen. Dabei besuchte er die gigantischen Baustellen wie die in Neuschwanstein regelmäßig allerhöchstselbst und bekam dort neue Ideen wie die Tropfsteinhöhle im dritten Stock. Dennoch bewegte sich Ludwig offenkundig zu wenig und verzehrte zu gerne Süßspeisen, so dass er den Ruf als einer der schönsten Monarchen der Welt bald verlor - und später auch viele Zähne. Zu den Vorzügen von "Neuschwanstein" (Regie und Buch: Oliver Halmburger, Produktion: Loopfilm/ZDF) zählt, auf Reenactments und nachgestellte Szenen wie auch auf Ausschnitte aus Spielfilmen zu verzichten. Von Ludwig selbst sind ausschließlich einige zeitgenössische Porträts und Fotos zu sehen, die den markant verträumten Blick aus einem im Lauf der Jahre etwas aufgedunsenem Gesicht zeigen. Zudem ist natürlich das Schloss zu sehen, in dem heutzutage jeder in Ludwigs "Seele wandeln" kann, wie sein Biograf Marcus Spangenberg sagt. So gruppiert der Film, den Arte am 23. Dezember um 20.15 Uhr zeigt, ohne Sensationsheischen eine Menge Informationen über den aus seiner Zeit gefallenen "Kini". Es lässt sich also ein bisschen verstehen, wie er darunter litt, weder homoerotische Neigungen ausleben zu wollen, noch seine absolutistischen Überzeugungen ausleben zu können. Und dann musste er noch Geld von den Preußen anzunehmen, mit dem er immerhin weiter bauen konnte. Es lässt sich also, vielleicht, ein bisschen verstehen, dass der bayerische Staat irgendwann verhindern wollte, dass sein König, der sich sowieso kaum öffentlich zeigte, gepfändet würde, weil er immer noch mehr Schlösser plante. Sie erklärten ihn kurzerhand für regierungsunfähig. Doch irgendwann beschleicht einen angesichts der Besucher aus aller Welt und der Fernwirkung bis hinein ins erste Disneyland der Gedanke, dass zumindest in Deutschland niemals ein Monarch seinem Land ein Bauwerk hinterlassen hatte, das sich derart vielfach bezahlt gemacht hat. Zur ungeklärten Frage, ob sich Ludwig 1886 das Leben nahm oder beim Tod im Starnberger See noch andere Hände im Spiel waren, enthält der Film am Rande ein Thesenidyll, dem hier nicht vorgegriffenen werden soll. Und er bietet eine Erklärung fürs Ungleichzeitige im Traumschloss: Neuschwanstein hatte schon eine moderne Telefonanlage (zur "Optimierung der Befehlsketten", damit der zuletzt menschenscheue König weniger Dienern begegnet, so die Kunsthistorikerin Christine Tauber), eine moderne Zentralheizung und fließend Wasser - doch kein elektrisches Licht, obwohl das zu dieser Zeit längst verbreitet war. Doch Ludwig II. bevorzugte Hunderte von Kerzen. Der Autor und Sammler Jean Louis Schlim, der mit seinem gepflegt geschwungenen Schnurrbart selbst ein bisschen "kinioid" wirkt, erzählt, wie er vor vierzig Jahren das - inzwischen natürlich elektrifizierte - Schloss noch bei Kerzenschein erlebt hatte. Wenn dann die unbeantwortbare Frage aufgeworfen wird, ob es sich beim Schloss denn um echte Kunst handelt, und die, woraus genau der Staub besteht, der mit Tausenden Besuchern täglich unwillkürlich ins Schloss gelangt und die Kitsch- oder Kunstwerke angreift, rührt der Film beiläufig an ganz große Themen. Kurzum: "Neuschwanstein - Ludwigs Traum, Ludwigs Tragödie" ist ein Dokumentarfilm, der nicht selber spektakulär sein möchte, sondern sich ganz auf sein Sub- wie Objekt, die Fülle der Bilder und der Geschichten, die sich damit verbinden, einlässt. Und der gerade deshalb nicht nur rundum gelungen und sympathisch, sondern überdurchschnittlich aufschlussreich ist.

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