Berlin (KNA) In Sachen Gleichberechtigung gibt es in der Filmbranche weiterhin noch viel zu tun. Dafür setzt sich seit einem Jahrzehnt die Initiative ProQuote Film ein. Die Vorständin und preisgekrönte Dokumentarfilmerin Uli Decker ("Anima - Die Kleider meines Vaters") spricht im Interviews des KNA-Mediendienstes über bereits Erreichtes, weiterhin im Argen Liegendes - und ihre Wünsche für das neue Filmfördergesetz. KNA-Mediendienst: Seit zehn Jahren setzt sich ProQuote Film für Parität und Diversität der Geschlechter in der Filmbranche ein. Was hat es gebracht? Uli Decker: Es hat insofern viel gebracht, als dass das Thema überhaupt einmal in die öffentliche Aufmerksamkeit gerückt ist. Als sich 2014 aus dem Bundesverband Regie (BVR) eine Gruppe von Frauen zum Verein ProQuote Regie formierte, der sich 2018 zu ProQuote Film erweiterte, waren die Gründerinnen erst mal damit beschäftigt, belastbare Zahlen und Daten zusammenzutragen, auf deren Grundlage man diskutierten konnte. Vor 2014 gab es die nicht. MD: Was ergab die Bestandsaufnahme? Decker: Der erste Diversitätsbericht des BVR, der die Regievergabepraxis im Kino und Fernsehen der Jahre 2010 bis 2013 untersuchte, ergab: Nur elf Prozent der fiktionalen Sendeminuten im öffentlich-rechtlichen Fernsehen wurden von Frauen inszeniert. Eine erschreckend niedrige Zahl! ProQuote Regie ging daraufhin mit der Forderung an die Öffentlichkeit: Wir brauchen eine Frauenquote von 50 Prozent. Das brachte weitere Institutionen auf den Plan, weitere Studien folgten. Die MaLisa-Stiftung von Maria Furtwängler zum Beispiel nahm auch Schauspielerinnen, Autorinnen und Kamerafrauen in den Blick und ermittelte Zahlen zum Gender Pay Gap in der Filmbranche. Dieser beläuft sich auf 35 Prozent und liegt damit weit über dem Durchschnittswert aller Branchen in Deutschland. Kamerafrauen verdienen im Schnitt sogar nur halb so viel wie ihre männlichen Kollegen. MD: Mit welcher Begründung? Decker: Es hat wahrscheinlich damit zu tun, dass Kamerafrauen oft nicht für die großen Projekte gebucht werden. Sie arbeiten eher im Dokumentarfilmbereich, wo die Budgets kleiner sind. Ihnen wird nicht zugetraut, dass sie genauso tolle Bilder kreieren können wie Kameramänner, obwohl immer mehr Frauen in diesem Gewerk arbeiten und preisgekrönte Filme visuell gestalten. MD: Es gibt auch mehr Regisseurinnen als noch vor zehn Jahren. Trotzdem kommt der inzwischen 7. Diversitätsbericht des BVR nur auf knapp 30 Prozent weiblichen Regieanteil in der TV-Fiktion... Decker: ...und nur 25 Prozent der Filmförderung geht an Projekte von Frauen. Sie führen vor allem in einem weniger hoch budgetierten Bereich Regie. Bei großen Serien oder Kinofilmen finden sich kaum Frauen, die inszenieren. Selbst wenn sie große Namen tragen wie Maren Ade, die für "Toni Erdmann" die Goldene Palme und beinahe den Oscar bekam, werden sie eher als Nischenregisseurinnen gesehen. MD: Wie ist die Lage im Dokumentarfilmbereich, wo Sie tätig sind? Decker: Da ist das Geschlechterverhältnis relativ ausgeglichen. Aber es ist eben auch der Bereich, in dem am wenigsten Budget zur Verfügung steht und wir mit viel Selbstausbeutung arbeiten. MD: Welche Erfahrungen als Filmregisseurin machen Sie persönlich? Decker: Mir haben seit meiner Kindheit Geschichten gefehlt, in denen ich mich wiederfinden konnte. Lange dachte ich, ich sei damit allein und eventuell aus der Art geschlagen, und alle anderen identifizierten sich eben mit den Klischees, die ständig in Filmen wiederholt wurden. Mir wurde relativ spät klar, dass es nicht an mir liegt, sondern an dem System, was verhindert, dass Frauen und Menschen mit diverseren Hintergründen in Positionen kommen, in denen sie Geschichten prägen können. Und das ist fatal. Denn wer die Macht über die Geschichten hat, bestimmt, was auch gesellschaftlich vorstellbar beziehungsweise "normal" ist und was nicht. MD: Was genau meinen Sie mit "System"? Decker: Als Kind wusste ich nicht, dass eine Frau auch Regie führen kann. Frauen in dem Beruf kamen weder im Theater noch im Film vor. Als ich mich Ende der 1990er Jahre mit Anfang 20 an der Filmhochschule München bewerben wollte, bestand der Lehrkörper ausschließlich aus Männern - und Doris Dörrie. Ich ließ mich davon erst einmal entmutigen und nahm einen langen Umweg zum Filmemachen. Inzwischen hat sich an den Filmhochschulen einiges geändert. Das Verhältnis von Regie-Studentinnen und -Studenten ist ausgeglichen, aber sobald es in den Arbeitsmarkt geht, sinkt die Zahl der arbeitenden Regisseurinnen. Das liegt natürlich auch an der Art, wie wir mit der Mutterrolle in unserer patriarchal geprägten Gesellschaft umgehen und wie schwer es immer noch Menschen gemacht wird, Beruf und Familie zu vereinen. MD: Dagmar Reim, die frühere RBB-Intendantin und erste Frau an der Spitze in 53 Jahren ARD, kam in einem Gastbeitrag für die "Süddeutsche Zeitung" zu dem Schluss: "Wir haben zu wenig erreicht." Dass es zu wenig Fortschritt im jahrzehntelangen Kampf für Teilhabe, Gerechtigkeit unter den Geschlechtern und Lohnparität gibt, kreidet Reim nicht zuletzt den Frauen selbst an: Anders als Männer trauten sich Frauen Führungspositionen oft nicht zu und spätestens mit dem zweiten Kind verschwänden sie von der Bildfläche. Sind die Frauen mit Schuld an ihrer Malaise? Decker: Ich glaube, es hat viel damit zu tun, dass sich Frauen fragen: Will ich mir das überhaupt antun? Die Führungskultur in Bereichen mit geringem Frauenanteil ist meist geprägt von hemdsärmeligen Männern. Sich unter ihnen als eine von wenigen Frauen zu behaupten, ist oft sehr nervenaufreibend und anstrengend. Frauen in solchen Kontexten werden argwöhnisch beäugt und müssen sich ständig beweisen. Ich kann jede Frau verstehen, die diesen Kampf und den Vergleich mit männlichen Kollegen nicht auf sich nehmen will. Zudem sind Mütter häufiger als früher erwerbstätig, doch ist die Belastung durch Care-Arbeit kaum gesunken. Viele berufstätige Mütter bewegen sich einfach am Rande des Burn-outs und blicken trotzdem einer Altersarmut entgegen. MD: Die Frauen, die es trotz allem nach oben schaffen, könnten doch mehr für andere Frauen tun! Decker: Frauen fördern nicht automatisch Frauen. Viele von uns haben gelernt, dass wir besser vorankommen, wenn wir uns an Männer halten. Andere Frauen werden eher als Konkurrentin denn als Verbündete gesehen. Damit stellen sie sich selbst ein Bein beim Versuch, Netzwerke zu bilden. Aber es gibt auch viele Frauen, die solidarisch mit anderen Frauen sind, sich gegenseitig unterstützen und fördern und so die alten Strukturen verändern. MD: Könnte eine Quote etwas daran ändern? Decker: Ich glaube schon. Nur ab einem bestimmten Prozentsatz in bestimmten Positionen können Frauen und bisher unterrepräsentierte Gruppen eine neue Kultur prägen. Ihre eigene Art zu arbeiten wird dann als genauso professionell anerkannt wie die von Männern. Und dass Selbstverpflichtung nicht besonders effektiv ist, sieht man ja schon in der Wirtschaft. Erst eine Quote macht es möglich, dass sich althergebrachte Machtverhältnisse verändern. MD: ProQuote fordert nicht nur eine Frauenquote, sondern auch eine Diversitätsquote von 30 Prozent. Für wen genau? Decker: Es sind über so viele Jahrzehnte Filmgeschichte viel zu viele Geschichten und Menschen unter den Tisch gefallen, während vorwiegend weiße Männer aus der Mittel- und Oberschicht die Welt erzählten. Deshalb setzen wir uns auch dafür ein, dass zum Beispiel auch queere Filmschaffende, BIPoCs (Schwarze, Indigene und People of Color, Anm. d. Red.), behinderte Filmschaffende, ältere, von Klassismus Betroffene, mit ostdeutscher Biografie, mit Care-Verpflichtungen und vielem mehr Raum bekommen und sichtbar werden. Auch hier schlagen wir eine Quotenregelung vor, denn anders werden neue Sichtweisen, die mehr mit unserer vielschichtigen Realität zu tun haben, weiter zwar als Ausnahmen in Nischen vorkommen, aber kaum Fördergelder und keine größere Öffentlichkeit auf Leinwänden und Bildschirmen bekommen. MD: Wie weit ist Ihr Verein mit dem Vorstoß gekommen, eine Quote gesetzlich festschreiben zu lassen? Decker: Leider wird unsere Forderung im neuen Filmfördergesetz von Kulturstaatsministerin Claudia Roth, mit dem die Chance bestünde, eklatante Missstände per Gesetz zu beheben, konsequent ignoriert, was uns auf die Barrikaden treibt. Damit sich wirklich und zügig etwas in der Film- und Fernsehlandschaft ändert, braucht es ein Gesetz. Frau Roth verpasst gerade eine historische Chance. MD: Österreich experimentiert mit einem Punktesystem: Wer Parität und Diversität beachtet, bekommt für das nächste Filmprojekt bei der Förderung Punkte gutgeschrieben. Decker: So ein Punktesystem kann durchaus Anreize schaffen. In Deutschland wird die Diskussion aber abgeschmettert, was daran liegen könnte, dass in der Kommission, die über das neue Gesetz berät, in erster Linie Produzenten sitzen. Sie argumentieren, dass Filme von Frauen weniger gesehen werden und entsprechend weniger Geld bekommen sollten. Damit bestärken sie ein strukturelles Problem, und am bestehenden System ändert sich nichts. MD: Was sich gebessert hat: Zentrale Rollen im Kino werden immer öfter mit Frauen besetzt. Ihr Anteil hat seit der ersten Erhebung der MaLisa-Stiftung im Jahr 2017 von 42 Prozent auf 47 Prozent zugenommen. Decker: Stimmt, es ist allerdings so, dass Frauen immer noch sehr klischeehaft dargestellt werden, was sich auf die Karrieren von Schauspielerinnen auswirkt. Insbesondere in der zweiten Lebenshälfte werden sie stereotyp besetzt, wenn sie denn überhaupt vorkommen. Sogar schon ab Mitte 30 verschwinden Frauen mehr und mehr von Leinwand und Bildschirm. Mit 50 gehen für die meisten die Lichter komplett aus. MD: Die "Tatort"-Regisseurin Sabine Derflinger, Jahrgang 1963, klagte, sie sei "von der Frauen- in die Altersdiskriminierung abgestürzt". Welche Rolle spielt das Alter in der Regie? Decker: Es gibt bei den Öffentlich-Rechtlichen die Tendenz, dass sie jetzt unbedingt lauter junge Frauen haben wollen, um das Programm zu verjüngen. Die Gefahr ist, dass nun die jungen Frauen gegen die älteren Frauen ausgespielt werden, die ihr Leben lang mit Diskriminierung zu kämpfen hatten und dann, wenn sie sich endlich einen Weg erkämpft haben, zu hören bekommen: Zu alt! Auf solche Dynamiken müssen wir aufmerksam machen, denn sie schaden letztlich uns allen. MD: Was hat ProQuote Film in nächster Zeit vor? Decker: Wir werden das Thema Diversität und Genderparität immer weiter in die Öffentlichkeit tragen und die Politik auffordern, endlich mit einer Quote Fakten zu schaffen. Ganz konkret: Auf der Berlinale veranstalten wir am 19. Februar den Kongress "Empowered for Equality". In den Workshops geht es unter anderem um Verhandlungsführung und um Vereinbarkeit von Familie und Beruf. Dazu gibt es Vernetzungsangebote und die Möglichkeit, sich mit anderen Frauen aus der Filmbranche auszutauschen. Und natürlich feiern wir zehn Jahre ProQuote. Am 8. März startet dann unser neuer ProQuote-Film-Podcast. Wir stellen im Zweimonatsrhythmus Frauen in der Filmbranche vor, sprechen mit ihnen über Karrierewege, Hindernisse und Erfolge, um uns gegenseitig zu inspirieren und voneinander zu lernen. Im Lauf des Jahres wird auch eine ProQuote-Filmreihe starten, in der wir Frauen und Diversität im Film eine besondere Plattform bieten.