Mangelnde Sorgfalt und fehlender Persönlichkeitsschutz - Presserat verteilte 2023 mehr Rügen als je zuvor

Von Alexander Riedel (KNA)

MEDIENETHIK - KI-Bilder, KI-Interviews und Holger Friedrich: Die freiwillige Selbstkontrolle der gedruckten Medien hatte im vergangenen Jahr viel zu tun - und stellte dabei besonders viele Verstöße fest.

| KNA Mediendienst

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Deutscher Presserat

Foto: Deutscher Presserat/KNA

Berlin (KNA) Der Deutsche Presserat hat einen Negativrekord zu verzeichnen: Im vergangenen Jahr rügte das Gremium der freiwilligen Selbstkontrolle der gedruckten Medien und ihrer Online-Auftritte mehr Verstöße gegen den Pressekodex als je zuvor. 73 Mal verhängte der Rat seine schärfste Sanktion, wie aus dem aktuellen Jahresbericht hervorgeht. 2022 hatte das Gremium nur 47 Rügen ausgesprochen, nach 60 im Jahr 2021 und 53 im Jahr 2020. Zur Berichterstattung über die Kriege im Nahen Osten und in der Ukraine gab es 2023 dagegen keine Rügen - wobei die Ausschüsse erst im März über 24 noch offene Beschwerden zu Nahost aus dem vergangenen Jahr entscheiden werden. Insgesamt gingen zum Angriff der Hamas vom 7. Oktober und dem anschließenden Gaza-Krieg 83 Beschwerden zu 67 Artikeln ein. Zum Ukraine-Krieg gingen mit 37 Einzelbeschwerden nur noch halb so viele ein wie im ersten Kriegsjahr. "Bei großen Themen wie den Kriegen in Israel und Gaza sowie in der Ukraine haben die Print- und Online-Medien ganz überwiegend sauber gearbeitet", bilanzierte Presseratssprecherin Kirsten von Hutten. Einen Großteil der ausgesprochenen Rügen machten im vergangenen Jahr Verstöße gegen die journalistische Sorgfaltspflicht und den Persönlichkeitsschutz aus - jeweils 22 entfielen auf diese Bereiche. Schwerwiegende Fehler in der Berichterstattung rügte der Presserat mehr als doppelt so oft wie im Vorjahr. Dabei ging es etwa um zu reißerische Überschriften, Vorwürfe, zu denen Beschuldigte nicht Stellung nehmen konnten, oder nicht sorgfältig recherchierte Fakten. Presseratssprecherin von Hutten erklärte dazu: "Unser Eindruck ist grundsätzlich nicht, dass die Redaktionen weniger sorgfältig arbeiten als noch vor ein paar Jahren." Vielmehr seien Leserinnen und Leser sensibler und meldeten zum Beispiel schneller, wenn Überschriften zu Artikeln nicht ganz oder gar nicht korrekt seien. Diesbezüglich agierten die Beschwerdeausschüsse zum Teil auch sensibler und sprächen möglicherweise schneller Rügen aus. Jeweils 11 Mal rügte der Presserat unangemessen sensationelle Artikel, etwa zu Gewalttaten oder Sexualdelikten, sowie Verstöße gegen die Menschenwürde und die Glaubwürdigkeit der Medien. Dies war beispielsweise der Fall, wenn Spekulationen in der Überschrift als Fakten angekündigt wurden oder ein Opfer unwürdig dargestellt wurde. Erstmals leicht zurück gingen hingegen schwere Verstöße gegen das Gebot der Trennung von Werbung und Redaktion (10 Rügen nach 14 Rügen im Vorjahr). Auch prominente Fällen finden sich unter den Entscheidungen des Presserats im vergangenen Jahr: So wies das Gremium Beschwerden über die Veröffentlichung von Textnachrichten des Springer-Chefs Mathias Döpfner in der "Zeit" (vgl. MD 24/23) ebenso ab wie solche zur Verdachtsberichterstattung der "Süddeutschen Zeitung" im Fall Hubert Aiwanger (vgl. MD 49/23). Eine Rüge erhielt dagegen der Verleger der "Berliner Zeitung", Holger Friedrich, der den Namen seines Informanten, des Ex-"Bild"-Chefredakteurs Julian Reichelt, an Axel Springer weitergegeben hatte (vgl. MD 24/23). In Sachen Künstlicher Intelligenz (KI) plant der Presserat derzeit nicht, eine Kennzeichnungspflicht für KI-generierte Texte im Pressekodex einzuführen - auch wenn dies von vielen gefordert wird. Das Gremium argumentiert, dass der Kodex bereits jetzt Redaktionen zur Einhaltung berufsethischer Standards verpflichte, unabhängig davon, ob ein Text von einem Menschen oder einer Maschine stamme. Der Presserat hatte im vergangenen Jahr ein mit Hilfe von KI erfundenes Interview mit dem früheren Rennfahrer Michael Schumacher in der Funke-Zeitschrift "die aktuelle" gerügt (vgl. MD 17/23). Auch die nicht gekennzeichnete KI-Verwendung in einem Rezeptheft des Burda-Verlags wurde gerügt (vgl. MD 50/23) - da KI-generierte Bilder laut Pressekodex als symbolische Illustrationen gekennzeichnet werden müssen. Die Zahl der Beschwerden zur Nennung der Herkunft von Tatverdächtigen bewegte sich mit 21 erneut auf dem niedrigen Niveau der Zeit vor dem Flüchtlingszuzug von 2015/16. Laut Pressekodex soll die Herkunft oder die Zugehörigkeit von Verdächtigen oder Straftätern zu einer Gruppe in der Regel nicht erwähnt werden, sofern nicht ein begründetes öffentliches Interesse daran besteht. Den überwiegenden Teil der Beschwerden bewerteten die Ausschüsse des Presserats hier als unbegründet oder sogar als offensichtlich unbegründet, da sie ein eindeutiges öffentliches Interesse erkannten. Verstöße gegen den Pressekodex sah das Kontrollgremium hingegen, wenn die Nationalität von Verdächtigen bei Vergehen wie Vergewaltigung, Körperverletzung oder Diebstahl genannt wurde und die Nationalität nicht mit den Taten zu tun hatte. In sieben Fällen erteilte der Presserat Hinweise und in einem Fall eine Missbilligung. Berichte sollten nicht zu einer diskriminierenden Verallgemeinerung individuellen Fehlverhaltens führen können, hieß es. Die Zahl der Beschwerden beim Presserat stieg nach deutlichen Rückgängen in den Vorjahren wieder an, von 1.733 auf 1.850 im vergangenen Jahr. Im Jahr des Beginns der Corona-Pandemie (2020) waren noch 4.085 Beschwerden eingegangen. In 531 Fällen befassten sich 2023 die Beschwerdeausschüsse des Presserats mit den von Leserinnen und Lesern eingebrachten Anliegen. Das waren in etwa so viele wie 2020 (530) und mehr als 2022 (413). In anderen Fällen lehnte das Gremium Beschwerden ab, weil die beanstandeten Berichte ganz offensichtlich nicht gegen den Pressekodex verstießen oder weil sie sich gegen Berichterstattung im Rundfunk richteten, für den der Presserat nicht zuständig ist.

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