Hauptstadt-Newsletter - Verdrängungswettbewerb in der politischen Blase

Von Christian Bartels

NEWSLETTER - Man könnte den ganzen Tag lang mit Erkenntnisgewinn Hauptstadt-Newsletter lesen, aber ein Geschäftsmodell ist das nicht. Mit dem deutschen Politico-Start heizt Springer die Konkurrenzlage weiter an.

| KNA Mediendienst

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Politico-Deutschland-Chef Gordon Repinski

Foto: dts Nachrichtenagentur/IMAGO/KNA

Berlin (KNA) Seit dem 19. Februar lässt sich frühmorgens noch mehr kostenloser Newsletter-Journalismus lesen. Schon zuvor herrschte in dieser nachrichtenjournalistischen Nische, die ihre Leser auf allen E-Mail-fähigen Geräten bedient und für Redaktionen den Charme unmittelbarer Kundenbeziehungen besitzt, reger Wettbewerb. Seit rund drei Wochen verschärft ihn Springers "Politico" jetzt noch einmal mit seinem "Berlin Playbook". Die Start-Ausgabe verfasste Gordon Repinski, der als "Executive Editor Germany" firmiert und von Gabor Steingarts "Pioneer Briefing" kam. Die Newsletter treffen am frühen Morgen eher spät - immer kurz nach 7.00 Uhr - im Postfach ein; Repinski schrieb bisher die meisten Ausgaben. Politico greift sozusagen von zwei Seiten in den Markt ein: Einerseits erscheint ein international bewährtes Schwergewicht, das nach eigenen Angaben "1.100 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, darunter mehr als 500 Journalistinnen und Journalisten an sieben Redaktionsstandorten auf zwei Kontinenten in sieben Zeitzonen", beschäftigt, und "mehr als eine Million Leser" erreicht, nun auch auf deutsch. Andererseits ist Deutschland der Heimatmarkt des Politico-Eigentümers Axel Springer. Rund eine Milliarde US-Dollar soll der Berliner Konzern für den US-amerikanischen Newsletter-Pionier, der ihm seit 2021 vollständig gehört, gezahlt haben. Das Berliner "Playbook" liest sich ähnlich wie die Wettbewerber, zu denen im engsten Sinn neben dem "Pioneer Briefing" das "Berlin.Table-Late-Night-Memo" aus der von der früheren Werbe-Ikone Sebastian Turner gegründeten Table Media GmbH gehört. Im flotten, wie gesprochen klingenden (und in der verfügbaren Audioversion tatsächlich, allerdings von einer Bot-Stimme arg notdürftig gesprochenen) Tonfall wird "aus dem Regierungsviertel" berichtet, freilich manchmal auf dem Sprung nach Washington oder anderswo, wo ebenfalls politische Musik spielt. Der Politico-Newsletter besteht aus einem langem, in viele kurze Absätze unterteilten Text und verzichtet auf Illustrationen, auf die Gabor Steingarts Pioneer Briefing in Form neckischer Fotomontagen stark setzt. Auf Anzeigen in Textform, wie Table Media sie einstreut, freilich auf dezente Weise im Vergleich mit sonst gängiger Onlinewerbung, verzichtet Politico bislang ebenfalls. Auch international zeigt das neue Angebot Wirkung. Durchaus stolz vermeldete Politico in eigener Sache den Ärger Marine Le Pens, der Chefin der rechtslastigen französischen Partei Rassemblement National, die den Inhalt eines an sie gerichteten Briefs von AfD-Chefin Alice Weidel vorab "aus der Presse", nämlich via Politico erfuhr. Und ergänzte, dass Weidel sich aber auch ärgern könne, da auch sie bisher nur durch Politico wisse, was Le Pen von ihrem Brief hält - nämlich nicht viel. Wer mochte, konnte einen verlinkten französischsprachigen Brief auf AfD-Briefpapier als PDF-Datei herunterladen. Davon hätten viele klassische deutsche Medien wohl schon aus "Brandmauer"-Gründen die Finger gelassen. Dabei verdient die Frage, ob Le Pens RN sich von der nach weiter rechtsaußen gerückten deutschen AfD distanziert, durchaus Interesse. Schließlich stellt sich auf EU-Ebene die Frage, mit welchen Rechtsaußen-Parteien die AfD nach der Europawahl im Sommer eine Fraktion bilden wird. Den Eindruck, dass Zuspitzung zur übertriebenen Dramatisierung wird, kann man freilich auch gewinnen. "Dann entgleisten die Dinge völlig", schrieb Politico etwa über deutsch-französischen Streit zur Unterstützung der Ukraine beim kurzfristig anberaumten Besuch der deutschen Außenministerin Baerbock in Paris. Oder sagten Regierungschefs sowie Ressortminister beider Staaten eigentlich in unterschiedlichen Kontexte wie immer dies und das, was sich schwer in Einklang bringen lässt, aber auch meist ins jeweilige Inland zielt? Selbst wenn ein Pariser Motorradfahrer einem Begleitfahrzeug des Baerbock-Trosses "wütend den Mittelfinger zeigte", erhärtet das die Behauptung von der Entgleisung eher nicht. Beim wiederholten Lesen der Passage kann man zum Schluss gelangen, dass ausgeruht wirkende Texte auf gedruckten Zeitungsseiten auch ihre Vorteile besitzen. Vielleicht heißt es aber auch nur, dass morgendliche Mail-Newsletter für wiederholtes Lesen nicht gedacht sind. Meinungsfreude, etwa dass bei der Europawahl die Wiederwahl Ursula von der Leyens ("Europas mächtigste Frau", so Repinski) "nahezu sicher" sei, oder dass Bundeskanzler Scholz' Staatsbesuch in Italien deshalb zum "gemütlichen Kaffeekranz" mit Terminen beim italienischen Präsidenten und beim Papst wurde, weil die wichtigere Regierungschefin Meloni lieber nach Washington flog, bringt Politico mit - und insofern frischen Wind in den tendenziell regierungsnahen deutschen Hauptstadtjournalismus. Zum Ende hin bieten die deutschen Politico-Newsletter auch Service, politische und andere Termine des Tages, eine Geburtstags-Übersicht nebst kleiner Wettervorhersage und wünschen "einen wunderbaren Tag!" - was in ähnlicher Form alles auch die Konkurrenz liefert. "Spotted"-Meldungen wie die aus der Berliner Fußballkneipe "Tante Käthe", in der bei einem "interministeriellen Kickerturnier ... Mitarbeiter-Teams fast aller Bundesministerien" gegeneinander spielten und am Ende das Landwirtschaftsministerium gewann, zeigen, welche Zielgruppe das Ganze vor allem anvisiert: das politische Berlin, also die Politik-Blase, die schon wegen der Rekord-Größe des Bundestags und wegen der dort bewegten Geldströme viele Köpfe zählt. Und so hat der üppige Hauptstadt-Newsletter-Journalismus weder Probleme, an Informationen und originäre Inhalte zu gelangen (schon weil jede an der Ampel-Koalition beteiligte Partei zu jedem Plan eines von einem Koalitionspartner geführten Ministeriums eigene Anmerkungen streuen möchte) - noch Gesprächsgäste für die an die Newsletter angeschlossenen Podcasts zu finden. Wobei es die von Politico einstweilen nur auf Englisch gibt. Die Mitbewerber podcasten längst emsig auf deutsch. Im anschwellenden Konkurrenzkampf setzt Turners "Berlin.Table-Late-Night-Memo" dagegen auf längere Textblöcke und auch kompliziertere Argumentationen. Weiterhin verlinkt es gerne auf ausführlichere Analysen in den eigenen, hochpreisig kostenpflichtigen Themen-Newslettern, die das eigentliche Geschäftsmodell des "Deep Journalism" à la Sebastian Turner darstellen. Erst recht möchte Gabor Steingart in seinem "Pioneer Briefing" aus der an Inhalten überschaubaren "Economy Class" in den kostenpflichtigen Bereich lotsen ("In der Business Class habe ich für Sie die fünf unbequemen Wahrheiten über ein Land mit erodierender Kapitalbasis aufgeschrieben: viel Spaß!"). Fazit: Man kann all diese Newsletter mit Erkenntnisgewinn lesen. Und das auch komplementär, gerade weil sie sich aufeinander beziehen und ihre unmittelbaren Mitbewerber korrekt zitieren und verlinken. Letzteres bedeutet einen Vorzug im Vergleich mit den Nachrichtenportalen von Tageszeitungen, die oftmals nur noch interne Links zu Suchmaschinenoptimierungs-Zwecken setzen. Dass Konkurrenz das Geschäft belebt, stimmt also. Fragt sich bloß, wie lange das Ganze funktionieren wird. Selbst im reinen Newsletter-Geschäft konkurrieren Politico & Co. ja mit den zahllosen Newslettern vieler Zeitungen und Zeitschriften, unter denen etwa der Berliner "Tagesspiegel" mit seinem "Checkpoint" und einer Fülle weiterer Newsletter ("Von Wilmersdorf bis Washington") die eigene Rolle in der Hauptstadt betont. Die Werbefirma Ströer und ihr reichweitenstarkes Portal t-online.de erklären, mit dem morgens kurz vor 6.00 Uhr verschickten "Tagesanbruch"-Newsletter über 110.000 Abonnenten zu erreichen. Und die Newsletter-Zahl erhöht sich weiter. Auch das vor allem spendenfinanzierte correctiv.org, das mit seinen Berichten über die Konferenz im Landhotel bei Potsdam einen Scoop landete, versendet mit "Spotlight" inzwischen einen täglichen Newsletter, der ebenfalls einen Überblick à la "Der Tag auf einen Blick: Das Wichtigste" bietet - und mit einem "Jetzt spenden!"-Button endet. Den ganzen Tag lang Newsletter lesen wird trotz dieser Vielfalt niemand. Schon weil die Timelines der Social-Media-Plattformen sich ja ebenfalls laufend weiter füllen, und das vielfältiger und aktueller. Auch der Verdrängungswettbewerb im Newsletter-Journalismus findet im Windschatten der alles dominierenden, abermilliardenschweren, internationalen Plattformen statt. Dabei ist klar, dass Springer eingestiegen ist, um dabei zu bleiben. Der Konzern ist mit 35,9 Prozent auch an Steingarts Firma und damit an Pioneer beteiligt. Dass beide Newsletter-Angebote nebeneinander erfolgreich bestehen können, lässt sich bezweifeln. Selbst über die langfristige eigenständige Zukunft von Springers deutschen Medien-Marken "Bild" und erst recht der "Welt" wird ja gerne spekuliert. Wer also im verschärften Verdrängungswettbewerb verdrängt werden wird, ist auf Dauer mindestens so spannend wie noch so spannend geschriebene Morgen-Newsletter.

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