Eingeknickt vor Leni Riefenstahl? - Film über Schicksal der Sinti-Komparsen aus "Tiefland" wird in Freiburg aufgeführt

Von Thomas Schuler (KNA)

NS-AUFARBEITUNG - Der WDR hat den Dokumentarfilm "Zeit des Schweigens und der Dunkelheit" von Nina Gladiz zwar 2022 aus dem Giftschrank geholt und würde die jahrelange Auseinandersetzung wohl gerne vergessen. Doch ins lineare Programm oder in die Mediathek soll er weiterhin nicht. Und so stellen sich bis heute viele ungeklärte Fragen.

| KNA Mediendienst

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Kontroverse um "Tiefland"-Doku

Foto: imago stock&people/Imago/KNA

München (KNA) Nächste Woche wird "Zeit des Schweigens und der Dunkelheit" in Freiburg vorgeführt - mit einer Diskussion und Erläuterung über die Geschichte dieser umstrittenen Sperre. Die ehemalige WDR-Redakteurin Sabine Rollberg wird neben der zeitgeschichtlichen Bedeutung des Films auch den fragwürdigen Umgang des Senders mit Nina Gladitz und dem Film ansprechen. Josef Reinhardt sitzt im Halbdunkel auf einem Bett und wählt sich durch Nummern, die er vermutlich aus dem Telefonbuch hat. Vieles bleibt zunächst im Dunkeln. Offenbar logiert er in einem Hotel. Man sieht ihn auf seiner Suche durch nächtliche Straßen, und hört ihn im Off weiter telefonieren. Offenbar sucht er Polizisten, die im Krieg Gefangene in einem Lager bei Salzburg bewachten. Er sucht einen, der ja "ein Guter" gewesen sei, wie er sein Gegenüber am Telefon beruhigt, weil er mit Familie oder Bekannten des Polizisten spricht. Es habe damals ja solche und solche gegeben. Später wird man erfahren, dass auch die Guten zur Wachmannschaft der Nazis gehörten; in Konzentrationslagern waren das in der Regel SS-Soldaten. Reinhardt tastet sich vorsichtig voran im Kreis der Familien der Nazis und ihrer Helfer von damals. Er sei ein Bekannter, ja, er sei damals auch im Lager gewesen, nein, nicht als Bewacher. Er war Häftling. Er sagt es so nebenbei. Umso eindringlicher wirkt die Sprengkraft seiner Worte. Josef Reinhardt ist auf der Suche nach seiner Vergangenheit als Kind in einem Konzentrationslager der Nazis. Einer von 120 "Zigeunern", die eine besondere Geschichte verbindet. (Im Film sprechen sie von "Zigeunern"; der Begriff gilt heute als diskriminierende Sprache der Unterdrücker). So beginnt der Dokumentarfilm "Zeit des Schweigens und der Dunkelheit" von Nina Gladitz (1946-2021), der 1982 im WDR lief und einen Gerichtsstreit und Skandal auslöste, der bis heute nachwirkt. Leni Riefenstahl ist da noch gar nicht erwähnt. Erst nach und nach wird klar, worum es eigentlich geht: Als junge Dokumentarfilmerin war Nina Gladitz in "Zeit des Schweigens und der Dunkelheit" dem Schicksal von Sinti auf der Spur, die Leni Riefenstahl aus einem KZ heraus als Komparsen für ihren von den Nazis finanzierten und ab 1941 gedrehten Spielfilm "Tiefland" engagiert hatte. Die wenigen Überlebenden beklagten, sie hätten bis zuletzt auf eine Rettung durch die NS-Filmregisseurin gehofft. Offenbar hatte Riefenstahl, die sie "Tante Leni" nannten, diese Hoffnung genährt und sie in dieser Hoffnung gelassen. Die 2003 verstorbene Riefenstahl bestritt das zeit ihres Lebens; ebenso, dass sie die Sinti in einem KZ persönlich ausgesucht und sie für ihren Einsatz als Komparsen nicht bezahlt habe. Die Regisseurin, die im erst 1954 in die Kinos gekommenen "Tiefland" auch selbst die Hauptrolle übernahm, bestritt ferner, dass es ein KZ gewesen sei oder sie vom drohenden Schicksal der Sinti gewusst habe, das die Nazis für jene vorgesehen hatten. Sie klagte 1984 vor dem Landgericht in Freiburg gegen Gladitz und ihren Film, verlor allerdings in drei von vier Punkten. Seitdem ist es erlaubt, zu sagen, dass sie die Komparsen in einem KZ ausgesucht und nicht bezahlt habe. Man könne ihr jedoch nicht unterstellen, dass sie 1941 von der Vernichtung gewusst habe, da diese in Auschwitz erst später begonnen habe. Das Gericht beanstandete eine Szene, in der die Familie Reinhardt sagt, Tante Leni habe die Rettung von Auschwitz versprochen. Der WDR sperrte den Film daraufhin weg, auch für Forschung und Gedenkstätten. Nina Gladitz habe diese Szene umschneiden wollen, um den Film ins Ausland zu verkaufen, sagt die ehemals leitende WDR-Redakteurin Sabine Rollberg, die sich zeitweise mit Nina Gladitz ein Büro im WDR teilte. Doch der WDR habe ihr das Originalmaterial verweigert. Nina Gladitz starb im Mai 2021; Monate zuvor war ihre Biografie über "Leni Riefenstahl - Karriere einer Täterin" erschienen, in der sie ihre jahrelange Auseinandersetzung beschrieb. Ein offener Brief forderte WDR-Intendant Tom Buhrow 2021 auf, die Sperre aufzuheben. Im März 2022 war der Umgang des WDR mit "Zeit des Schweigens" schließlich Thema im Rundfunkrat des Senders. Damals gab Buhrow die Version bekannt, mit der der WDR seither in ähnlicher Form antwortet, auch auf eine Anfrage des KNA-Mediendienstes. Darin heißt es: "Nach einer Klage Leni Riefenstahls gegen die Filmemacherin Nina Gladitz hat das Oberlandesgericht Karlsruhe im Jahr 1987 entschieden, dass der Film "Zeit des Schweigens und der Dunkelheit" in seiner ursprünglichen Fassung nicht mehr gezeigt werden durfte. Änderungen an ihrem Film lehnte Nina Gladitz aber ab. Der Film wurde im WDR-Archiv daher - wie in solchen Fällen üblich - mit einem entsprechenden Sperrvermerk versehen." 2021 habe der WDR den offenen Brief zum Anlass genommen, den Film erneut zu sichten und die dazu archivierten Akten eingehend zu prüfen. "Nach Abschluss der Prüfung sehen wir die Bedeutung des Films für die wissenschaftliche und gesellschaftliche Aufarbeitung der Ausgrenzung und Ermordung von Sinti und Roma während des Nationalsozialismus. Daher hat der WDR entschieden, den Film freizugeben, zum Beispiel für ein Fachpublikum im Rahmen einer Veranstaltung. Es haben uns Anfragen von verschiedenen Veranstaltern erreicht, denen wir den Film zur Verfügung gestellt haben." Eine erneute Ausstrahlung durch den WDR sei aber nicht geplant, "da der Film aus heutiger Sicht nicht unseren Standards entspricht, wir aber gleichzeitig den Wunsch der Autorin respektieren, den Film nicht zu verändern." Es sei grundsätzlich Anspruch des WDR, historische Fragestellungen auf Basis des aktuellen Forschungsstandes einzuordnen. "Diesem Anspruch würden wir mit der Ausstrahlung einer über 40 Jahre alten Dokumentation nicht gerecht werden." Dem widerspricht Grimme-Preisträgerin Sabine Rollberg, die den WDR 2018 nach über 35-jähriger Tätigkeit für den Sender verließ: Nina Gladitz habe jahrelang versucht, die inkriminierte Auschwitz-Passage umzuschneiden. Auf diesen Widerspruch ging der WDR, trotz klarem Hinweis in der Anfrage des KNA-Mediendienstes, in seiner Stellungnahme nicht ein. So wirft die Freigabe des WDR eine Reihe neuer Fragen auf: Warum war es nach dem Tod von Nina Gladitz plötzlich doch möglich, den Film öffentlich vorzuführen? Wieso agierte der WDR so zurückhaltend und gab diese Wende nicht einmal öffentlich bekannt, so dass viele mögliche Interessierte davon bis heute nichts wissen oder ahnen? Seit der Wiederfreigabe 2022 gab es Vorführungen in Freiburg, Berlin, Dortmund und Potsdam. Nächste Woche wird der Film erneut in Freiburg vorgeführt. Doch die Fragen bleiben: Warum hat der WDR den Film überhaupt einst gesperrt? Ist der WDR gegen die prozesswütige Nazi-Propaganda-Regisseurin Leni Riefenstahl eingeknickt? Und wieso war die Freigabe nicht schon 2003 nach dem Tod von Leni Riefenstahl Thema, als die Wahrscheinlichkeit einer neuen Klage gering war? Solange diese "alten" Fragen unbeantwortet sind, bleiben sie aktuell. Die Produktion und Ausstrahlung von "Zeit des Schweigens" 1982 war eine lobenswerte Tat des WDR. Aber warum versagte der Sender nach der ersten Ausstrahlung 1982 der damals jungen Filmemacherin die Unterstützung, so dass sie sich alleine vor Gericht mit Riefenstahl auseinandersetzen musste? Wieso veranlasste der WDR damals die Sperre, obwohl er gar nicht im Urteil erwähnt war? Welche Rechte hält er überhaupt an dem Film? Im Abspann der heute gezeigten Version sind nur der britische Sender Channel Four und Gladitz genannt, nicht aber der WDR. Das belegt ein Video, das ein Nutzer vor einiger Zeit auf Youtube hochgeladen hat. Sabine Rollberg hat den Umgang des WDR mit Gladitz und ihrem Film aus der Nähe beobachtet. Beide hielten nach der gemeinsamen Zeit beim WDR den Kontakt; Rollberg unterstützte sie viele Jahre. In einem Beitrag über die Filme von Gladitz schrieb Rollberg, sie habe damals nicht wirklich versucht, Riefenstahl in einem Interview mit den Vorwürfen der Sinti zu konfrontieren, weil sie sich sicher gewesen sei "dass ihr Projekt dann wegen einer einstweiligen Verfügung nie realisiert werden würde". Gladitz habe aber 1981 einen Auftritt Riefenstahls bei einer Veranstaltung der "Badischen Zeitung" an der Universität Freiburg "im prall gefüllten" Audimax im Rahmen einer Buchtour gefilmt. Josef Reinhardt saß damals im Publikum, sprach aber nicht mit "Tante Leni".

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