München/Berlin (KNA) Medienethikerin Claudia Paganini fordert im Zusammenhang mit dem Anschlag in Solingen die Medien auf, mehr über Zusammenhänge und Hintergründe zu berichten. "Ich würde erwarten, dass man das kontextualisiert: Wie viele Messerattacken gibt es in Deutschland insgesamt pro Jahr? Wer verübt sie? Gibt es wirklich einen besonders hohen Anteil von Personen mit Migrationshintergrund?", sagte die Professorin für Medienethik an der Hochschule für Philosophie in München der Katholischen Nachrichten-Agentur (KNA): "Es geht hier nicht darum, zu beschwichtigen und mit der rosaroten Brille in die Welt schauen, sondern um relevante Informationen." Den Besuch von Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) in Solingen nannte sei angemessen, auch wenn es jetzt Stimmen gebe, "die sagen, das ist jetzt nur Wahlkampf-Strategie, das ist nicht authentisch". Aus ihrer Sicht habe Scholz "gar keine andere Wahl. Nicht hinzufahren ist in einer solchen Situation keine Option", fügte die in Österreich geborene Philosophin hinzu. Die Präsenz hochrangiger Politiker könne Menschen das Gefühl geben "dass sie gesehen und gehört werden, dass sie wichtig sind". Dies sei grundsätzlich ein sinnvolles Zeichen und in einer Demokratie noch wichtiger als immer sofort konkrete Lösungen anbieten zu wollen. Sich nicht zu zeigen, wäre sicher noch eine weitere Verletzung für die Betroffenen. "Es geht nicht nur um Empathie, sondern vielleicht noch grundlegender um Respekt", so Paganini weiter: "Wer diesen Anschlag jetzt für politisches Kleingeld instrumentalisiert, egal in welche Richtung, macht die Betroffenen zum zweiten Mal zum Opfer". Dass jetzt gefordert werde, Menschen einfach in ein anderes EU-Mitgliedsland abzuschieben oder die Einreise von Geflüchteten aus bestimmten Staaten komplett zu unterbinden, sei eine eigenartige Logik "und letztlich eine völlig unmenschliche Haltung." Paganini verwies zudem darauf, dass in der Berichterstattung bisher völlig ausgeblendet werde, wie viele Menschen ohne Migrationshintergrund sich der Terrororganisation IS angeschlossen hätten. Auch viele Deutsche radikalisierten sich, so die Ethikerin weiter: "Weil sie vielleicht zu wenig klare Sinnorientierung haben, da beispielsweise die Kirchen nicht mehr eine so große Rolle spielen. Denen alles irgendwie zu locker ist, zu weltanschaulich offen." Es gehe keinesfalls nur um ein Thema, "das von außen nach Deutschland hereingetragen wird, sondern auch um ein Problem drinnen in unserem Land, in unseren eigenen deutschen Familien." Für "Parteien aus der rechten Ecke" sei der Anschlag von Solingen "ein perfektes Wahlkampfgeschenk", ergänzte die Expertin: "Für die Strömungen, die diesem ausländerfeindlichen oder rechten Bedrohungstopos entgegenwirken müssen, ist es tatsächlich sehr schwierig." In Zeiten von multiplen Krisen reagierten Menschen eher auf einfache Lösungen, weil sie insgesamt schon ein Gefühl der Überforderung und der Ohnmacht hätten.