Luxemburg/Köln (KNA) RTL gehört zur DNA von Luxemburg - und umgekehrt. Schon der Name verbindet, schließlich steht RTL für Radio Télévision Luxembourg und ist eine große Marke für das kleine Land. Die ersten Anfänge liegen rund 100 Jahre zurück. 1929 startete das Unternehmen und profitierte von der bis heute liberalen Mediengesetzgebung im Großherzogtum. Während des Zweiten Weltkriegs herrschte Sendepause, aber bald danach wuchs RTL wieder und ergänzte das bisherige Hörfunk- durch ein Fernsehangebot. Es gilt als Keimzelle des privaten Rundfunks in Europa und in Deutschland. Und das war so gewollt im kleinen Großherzogtum. Dank der internationalen Frequenzen strahlte RTL schon in den fünfziger Jahren "transnational" Programme auf Englisch, Französisch und Deutsch in die Nachbarländer aus und setzte die dortigen öffentlich-rechtlichen Rundfunksender unter Druck. Teilweise in Deutschland als "Piratensender" geschmäht und gefürchtet, eroberte RTL das Publikum. Es war weniger langweilig, setzte früher als andere auf Pop und lockere Moderationen. Frank Elstner avancierte bei RTL vom Ansager zum Programmchef und holte Desiree Nosbusch, Anke Engelke, Rainer Holbe, Hans Meiser, Thomas Gottschalk und viele andere zum für Deutschland bestimmten, werbefinanzierten RTL-Programm. Doch RTL hat noch eine zweite Seite. Als RTL in Luxemburg mit dem Staat 2017 einen neuen Konzessionsvertrag besiegelte, glich das einem Staatsakt. Denn RTL ist in Luxemburg nicht irgendein privater Sender wie in Deutschland oder im restlichen Europa - sondern quasi öffentlich-rechtlich. Und als solches auch Mitglied der European Broadcasting Union (EBU), dem Zusammenschluss mehrheitlich öffentlich-rechtlicher Anstalten auf europäischer Ebene. Zum luxemburgischen RTL gehören der einzige Fernsehsender des Landes, ein Radiosender und eine Webseite - alles auf Lëtzebuergesch. Dass die Landessprache in der EU nicht zu den Verkehrssprachen gehört, sondern zu den Minderheitensprachen zählt, macht nichts: Am Medienkonzern RTL - der zum deutschen Branchenriesen Bertelsmann gehört, kommt in Europa niemand vorbei. Die Partnerschaft zwischen dem Großherzogtum und der RTL Group ist im sogenannten "Konzessionsvertrag" geregelt, dessen Inhalt geheim ist. Der Staat bestellt eine unabhängige, externe Wirtschaftsprüfungsgesellschaft, die jährlich Budget, Ausgaben und Einnahmen des Luxemburger RTL-Ablegers überprüft; auch die Einhaltung der Vereinbarung zum Programm sollen dabei überwacht werden. Seit Abschluss des Vertrags 2017 kassiert RTL in Luxemburg Staatsgelder, die sich am Defizit des Sendes orientieren - bis zu 15 Millionen Euro jährlich. Der Gesamtbetrag bis 2030 beläuft sich voraussichtlich auf mehr als 90 Millionen Euro. Dagegen regt sich nun Protest. Das Künstlerkollektivs "Richtung 22" macht mit Aktionen wie einem RTL-Mikrofon in einer Blutlache oder einem großen Scheck für RTL auf sich aufmerksam. Die Symbolik ist wenig subtil. Und zunächst mögen diese Aktionen auf den ersten Blick harmlos wirken, so als würden Studentinnen und Künstler sich über RTL und das staatliche Medienministerium lustig machen. Sie haben ihre Website rtl1.lu der alten Aufmachung von RTL Luxemburg so täuschend nachgebaut, dass RTL prüfte, ob man dagegen wegen Verletzung der Markenrechte vorgehen sollte. Das Unternehmen entschied sich dagegen - wohl auch, weil man keine Aufmerksamkeit auf "Richtung 22" lenken will. Denn ganz so harmlos ist, was "Richtung 22" kritisiert und fordert, nicht. Es könnte sogar ausgesprochen unangenehm werden für RTL in Luxemburg. Weshalb man beim Sender vermutlich über das Motto des Satire-Projekts: "Das Ende von RTL" wenig begeistert war. "Richtung 22" hat sich nach eigenen Angaben 2010 als freies Kunstkollektiv gegründet: "Ziel der Gruppe ist es, gesellschaftliche Debatten in Luxemburg zu starten und mithilfe von Kunstprojekten Missstände aufzudecken", heißt es in einer Art Mission-Statement. Die Projekte sollen "klare Kante" zeigen, eben eine "Richtung" haben, heißt es weiter. Die "22" stehe dabei für das 22. Jahrhundert, "wodurch auch eine (optimistische) Zukunftsgewandtheit mitschwingen soll". Bei den bisherigen Projekten ging es um die Verwicklung von Luxemburg im Kampf gegen die Dekolonisation des Kongos. Im Rahmen der europäischen Kulturhauptstadt Esch2022 thematisierte "Richtung22" den Wandel des Industriestandorts Esch/Alzette und die Machenschaften des Stahlkonzerns Arcelor-Mittal. Zu "Richtung22" gehören heute Menschen aus der Wissenschaft und den Medien, vom Theater, Drehbuchautorinnen und Schriftsteller. Aktuell hat die Gruppe etwa 50 aktive Mitglieder und wird vom Luxemburger Kulturministerium sowie punktuell von der öffentlichen Stiftung "Oeuvre National de Secours" finanziell unterstützt, dazu kämen Gelder aus einer Zusammenarbeit mit der Wochenzeitung "Luxemburger Land". Richtung22 stehe dafür, dass die Gruppe sich für gesellschaftliche Veränderungen einsetze, die Projekte also eine "klare Kante", eben eine "Richtung" haben. "22" stehe für das 22. Jahrhundert, "wodurch auch eine (optimistische) Zukunftsgewandtheit mitschwingen soll". Die Aktivisten von "Richtung 22" fragen nun mit Blick auf RTL, warum der Staat Bertelsmann und damit den größten Medienkonzern Europas mitfinanziert. Neun Monate hat die Gruppe recherchiert und Dokumente ausgewertet. Die Ergebnisse finden sich auf der "Richtung 22"-Website teilweise in satirische Beiträge verpackt, teilweise direkt formuliert. Gegenüber dem KNA-Mediendienst fasst Richtung 22 die Kritik so zusammen: "Bertelsmann fingiert ein Defizit bei RTL Luxemburg/CLT-UFA, um zu rechtfertigen, dass es öffentliche Gelder bekommt. Dieses Defizit gibt es aber so nicht. Es entsteht vermutlich künstlich dadurch, dass Gewinne in andere Unterfirmen verschoben werden." Die Bilanz gefälscht, um Subventionen zu erhalten? Ein heftiger Vorwurf. Die Medienaufsicht in Luxemburg verweist auf ein externes Wirtschaftsprüfungsunternehmen, das die jährliche Abrechnung prüfe. Ein Ausschuss wiederum prüfe die Abrechnung der Entschädigung, die sich 2023 auf 10.957.201 Euro belaufen habe. Oliver Fahlbusch, Sprecher der RTL-Group, betont, der Vorwurf einer falschen Bilanzierung sei "haltlos". Die Finanzen für den öffentlichen Programmauftrag von RTL Luxembourg (Budget, Ausgaben, Einnahmen) würden "jährlich von einer unabhängigen, externen Wirtschaftsprüfungsgesellschaft überprüft", so Fahlbusch. Die RTL-Group-Tochter CLT-UFA produziere ein Radio- und Fernsehprogramm mit öffentlich-rechtlichem Auftrag für Luxemburg ("service public"). "Einen Teil der TV-Produktionskosten refinanziert die CLT-UFA dabei über Werbeeinnahmen, einen weiteren Teil der Finanzierung übernimmt das Unternehmen direkt. Den fehlenden Betrag ("découvert", sozusagen das jährliche strukturelle Defizit) übernimmt das Großherzogtum Luxemburg, bis zu einem gewissen Maximal-Betrag pro Jahr", so der RTL-Sprecher. Der zweite Vorwurf von "Richtung 22" lautet, die öffentlich-rechtliche Funktion von RTL in Luxemburg sei nur vorgeschoben: Bertelsmann und die CLT-UFA "verstoßen sowohl gegen den eigenen Auftrag als auch gegen die Auflagen der Medienaufsicht, ignorieren Gesetze und halten allgemein die Standards eines öffentlich-rechtlichen Mediums nicht ein." Die Gruppe hat bei der Medienaufsicht mehr als ein Dutzend Programm-Beschwerden eingereicht, etwa weil nach ihrer Sicht RTL Vorgaben für Sendungen zu Kultur und Bildung nicht einhalte. Die Medienaufsicht hat eine Prüfung angekündigt; Ergebnisse liegen noch nicht vor. RTL wurde bislang nach eigenen Angaben noch nicht von "Richtung22" um Stellungnahme gebeten. Hierzu sagt Fahlbusch, mit einer neuen Convention für die Jahre 2024 bis 2030 seien die Anforderungen an den Programmauftrag erweitert worden, beispielsweise in den Bereichen Nachrichten, Kultur, Sport, Bildung. Eine vom Staat einberufene "Convention de suivi" überwache die Einhaltung der Vereinbarung. "RTL Luxembourg nimmt Programmbeschwerden ernst. In dem genannten Fall ist die Luxemburger Medienaufsicht ALIA noch nicht auf RTL Luxembourg zugekommen", so Fahlbusch weiter. Das Luxemburger Medienministerium teilte auf KNA-Anfrage mit: "Grundsätzlich kommentieren wir keine laufenden Vorgänge der Medienaufsicht ALIA. Wir haben keine Einsicht in das Vorbringen des Künstlerkollektivs 'Richtung22'." Außerdem kritisiert die Gruppe, dass Bertelsmann seit Jahrzehnten die kurzen Wege und Kontakte über RTL in Luxemburg zur EU nutze, um deren Medienpolitik und Mediengesetzgebung zu beeinflussen. Die luxemburgischen Kommissionspräsidenten Gaston Thorn (1981-1985) und Jaques Santer (1991-1995) waren zu Schlüsselzeiten bei Einführung und Ausbau privater Medien in Deutschland und anderen Mitgliedsstaaten im Amt. Auch die für Medien zuständigen, aus der Luxemburger Politik stammenden Kommissare Jean Dondelinger (1989-1993) und Viviane Reding (1999-2009) hätten zu entscheidenden Momenten der europäischen Mediengesetzgebung an den Schlüsselstellen gesessen. Sie arbeiteten vorher oder nachher in wichtigen Positionen bei der CLT-UFA oder bei RTL, "sodass sich über Jahrzehnte die Frage gravierender Interessenskonflikte stellt". Auch auf luxemburgische Mediengesetze und Regelungen werde weiter "massiv Einfluss genommen". Zum Vorwurf der Interessenskonflikte betont RTL gegenüber der KNA, man folge dem europäischen Transparenzregister. Das Medienministerium schreibt: Die Kontakte entsprächen den gesetzlichen Vorgaben, Grundlage seien die Verhaltenskodexe für politische Mandatsträger und politische Beamte. "Es liegen uns keine Elemente vor, die darauf schließen würden, dass diese nicht respektiert wurden", so das Ministerium. Christoph Bumb ist Gründer und Chefredakteur der unabhängigen Digitalpublikation Reporter.lu. Er betont gegenüber der KNA: "Ich halte die Vorwürfe zum Teil für berechtigt, zum Teil aber aus journalistischer Sicht für nicht ausreichend durch Recherchen belegt." Etwa den Vorwurf in Sachen Defizit, den seine eigenen Recherchen nicht bestätigten. Das Verdienst der Aktivisten von "Richtung 22" liege aber zweifellos darin, dass grundsätzliche Fragen zum Verhältnis zwischen dem Luxemburger Staat und RTL überhaupt stärker thematisiert werden. "Dazu gehört auch die kritische Beleuchtung von RTL Luxembourg als durchaus besonderes Hybridmodell zwischen privatem und faktisch öffentlich-rechtlichem Leitmedium, dessen dominante Marktposition nahezu parteiübergreifend gefördert wird", sagt Bumb. Die Problematik sei zwar in der Presse und auch politisch - etwa 2021 durch die Klage des Piraten-Abgeordneten Sven Clement zur Einsicht in die komplette Fassung des Konzessionsvertrags - punktuell behandelt worden. "Eine breite öffentliche Debatte, bei der sich die Verantwortlichen zu dieser Kritik äußern müssen, blieb bisher aber aus." Die Aktivisten von "Richtung 22" wollen jedoch nicht so leicht aufgeben. Sie warten nun auf das Ergebnis der Prüfung ihrer Programm-Beschwerden und bereiten nach eigenen Angaben unterdessen eine Klage auf EU-Ebene vor. Ihre Forderung ist klar: Sie wollen einen "echten" öffentlich-rechtlichen Rundfunksender. Die Auseinandersetzung um die Zukunft von RTL Luxemburg scheint für sie noch nicht zu Ende zu sein.