Berlin (KNA) Der Musiker und Sänger Bernd Begemann war angepisst. Aber so richtig. Natascha Geiers zweiteilige Fernsehdoku über die "vor einem Vierteljahrhundert erloschene Szene" (Musikjournalist Maik Brüggemeyer) hat ihm so gar nicht gefallen. Er hält in einem Facebookpost die am 24. Mai um 4.45 Uhr im linearen Fernsehen ausgestrahlte zweiteilige NDR-Doku für "einen von persönlicher Agenda triefenden IchIchIch-Vlog" und ein "ignorantes Ego-Gewixe" - und legt später noch nach. Daraufhin entspann sich in den sozialen Medien eine virtuelle Wirtshausschlägerei. So haben sich die Zeiten vom Sozialen zum Parasozialen verändert, seit Anfang der 1990er Jahre die wohl letzte analoge Subkultur "über den Kiez in die Charts" zog. Der Journalist Christian Ihle hat die Kontroverse am 3. Juni in einem 60.000 Zeichen langen Longread in sieben Kapiteln für das taz-Blog "Monarchie und Alltag" dokumentiert. Eigentlich wäre die versammelte "beleidigte Leberwurstigkeit" Stoff für die Trash-TV-Analytikerin Anja Rützel. Es waren aber Olli Schulz und Jan Böhmermann, die keine Woche später daraus ein 77-minütiges Hörspiel als Spezialausgabe ihres Podcasts "Fest & Flauschig" auf Spotify gemacht haben. Allein mit ihren gefilterten Stimmen tragen sie sämtliche Äußerungen aller Beteiligten vor und man staunt, was an stimmlicher Variabilität möglich ist, wenn man die entsprechenden Plugins zu benutzen weiß. Da macht es kaum etwas aus, das Schulz und Böhmermann nicht ganz über die schauspielerischen Skills verfügen, sich ihren Protagonisten anzuverwandeln, denn darum geht es nicht in erster Linie. Elektronisches Sounddesign, unterlegt mit dem Plastikgeklapper von Computertastaturen, geben den Stimmen zusätzlichen Raum. Ab und zu gibt es idyllisches Vogelgezwitscher oder dräuende Pauken und auch mal den Sound einer mechanischen Schreibmaschine. Es ist natürlich komplett gerechtfertigt, aus einer schriftlich geführten Diskussion über die Fernsehdokumentation einer Subkultur, ein Hörspiel zu machen, ohne sich den Vorwurf der Zweit-, Dritt- oder gar Viertverwertung einzufangen. Denn mehr noch als die Bühnen von Karmers und Pudel hat die "Hamburger Schule" die Metaebenen dieser Republik bespielt. Die Frage ist: Leistet das Hörspiel etwas, was Christian Ihles Dokumentation nicht leistet? Naturgemäß geht es um die Inszenierung von Differenzen. Im Fernsehen bekommt man durch die im warmen Licht der Nostalgie gefilmten Interviews ein Gefühl dafür, wie unfassbar jung die Protagonisten damals waren, wenn man die dagegen geschnittenen Bildern aus den späten 80er und frühen 90er Jahren sieht. Und außerdem sieht man, dass es möglich ist, in Würde zu altern, ohne zum Abziehbild seines früheren Ichs zu werden. Olli Schulz (früher Hamburg, heute Berlin) und Jan Böhmermann (früher Bremen, heute Köln) kitzeln in ihrer Performance der Diskussionsbeiträge die inhärente wie auch die unfreiwillige Komik heraus. Natürlich reduzieren sie dabei die Figuren auf ihre eigenen Klischees. Aber wo man keiner Charakterentwicklung folgen muss, wird die Aufmerksamkeit auf die Inhalte, auf die Texte, gelenkt. Natürlich hat es etwas Lächerliches, aber auch etwas zutiefst Menschliches, wenn einige Akteure sich beschweren, nicht ausreichend oder gar nicht für die Fernsehdoku interviewt worden zu sein, wie sich Kerstin "Kersty" Grether ("Spex") selbst eingesteht. Die Popjournalistin und Musikerin holt dann aber auch das große Geschütz raus und wirft Geier vor, die von ihr und ihrer Schwester Sandra erfundene Form des Popfeminismus "unsichtbar gemacht" hätte. Wo Kersty Grether moniert, dass bestimmte (ihrer) Positionen marginalisiert würden oder gar "aus der Geschichte gestrichen", entgegnet die kluge Journalistin Rebecca Spilker, dass an Geiers Doku etwas festgemacht wird, "was an anderer Stelle besser anzuleinen wäre", und stört sich dran, dass das die (feministische) Sache kleiner mache. Denn ein Großteil der zweiten Folge von Natascha Geiers Doku dreht sich um die Rolle der Frauen in der "Hamburger Schule", von Bernadette La Hengsts Band "Die Braut haut ins Auge" über Rebecca "Nixe" Walshs Projekte bis hin zu den Berliner "Lassie Singers", die der Popmusik das Wort "Körpergebirgsergriffenheitssex" geschenkt haben, eines der schönsten Komposita deutscher Zunge. "Wir haben uns auch eher als Schule für Erwachsenenbildung aus Berlin gesehen, nicht als 'Hamburger Schule'", sagt Lassie-Sängerin Christiane Rösinger, die in der Doku leider als eine Art missgünstige Berliner Hauswartsfrau rüberkommt - eine Rolle, die ihr nicht gerecht wird. Eher erklärungsbedürftig ist, warum in der Doku weder Zickzack-Labelgründer Alfred Hilsberg noch Blumfeld-Sänger Jochen Distelmeyer zu Wort kommen. Rebecca Spilker, eine von Geiers Gesprächspartnerinnen, erklärt das in einem Facebookpost so: "Der ehemalige Klassensprecher dieser Schule fehlt. Er schnipste beim Melden stets mit den Fingern und eroberte nebenbei mit seiner Band "Blumfeld" (von uns damals schmunzelnd "Wiese" genannt) die Feuilletons der Republik. Schade, dass man ihn nicht vor die Kamera locken konnte. Sicher hätte er das 'Damals und Heute' für uns noch einmal eloquent und abschließend zusammengefasst. Frei vorgetragen. In Hexametern." In der "Hamburger Schule" wurde viel geschwatzt und dazwischengeredet. Und natürlich beanspruchte jeder das, was mit dem Oxymoron "Diskurshoheit" bezeichnet wird. Als wäre der Diskurs etwas, was man führen kann, und nicht etwas genauso Heterogenes wie die "Hamburger Schule" selbst, zu der damals die wenigsten und heute die meisten zugerechnet werden wollen. Der Spritzer Traurigkeit, der sich in die hoch unterhaltsame und manchmal sehr komische Diskussion mischt, ist die Bereitschaft, alte Schlachten immer wieder neu zu schlagen. Begemann, dessen Stimme Schulz und Böhmermann diabolisch tief gepitcht haben, schlägt regelrecht um sich und fertigt beispielsweise "Die goldenen Zitronen" um Sänger Schorsch Kamerun folgendermaßen ab: "Die Zitronen haben Agitprop zurückgebracht. Danke dafür. Das muss reichen." Auch die Beständigkeit alter Narrative irritiert. Dass in den 1990er Jahren der Sexismus in der Musikszene so weit verbreitet gewesen sei, konnte man in den 90ern über die 70er hören und wird vermutlich in den 2040ern über die 2020er gesagt werden. Und natürlich widerspricht das dem Postulat des 2022 verstorbenen Sängers der Band "Kolossale Jugend" Kristof Schreuf, das Rocko Schamoni zu Beginn der Doku zitiert: "Es geht nur um Genauigkeit!" Da hatte er recht. Ein Fazit der Online-Diskussionen zieht die "Spiegel"-Journalist Benjamin Moldenhauer: "Seit dieser wirklich sagenhaft eitlen Debatte darüber, wer mit welchen Sätzen in dieser 'Hamburger-Schule'-Doku aufgetreten ist und wer herausgeschnitten wurde, muss ich immer sehr lachen, wenn ich die Musik höre. Da seht ihr, was ihr angerichtet habt." Manchmal möchte man die Hamburger Schülerinnen und Schüler einfach nur ganz fest in den Arm nehmen!