Inklusion und Teilhabe - Applaus und Kritik für "Tagesschau" in Einfacher Sprache

Von Jana Ballweber (KNA)

TEILHABE - Seit einigen Tagen bietet das Flaggschiff des deutschen Nachrichtenjournalismus auch ein Format in Einfacher Sprache an. Viele begrüßen den Schritt, weil die ARD damit ihren Auftrag erfüllt, allen ein Informationsangebot zu machen. Fachleute und Menschen aus der Zielgruppe sehen aber noch Verbesserungsbedarf.

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Tagesschau in Einfacher Sprache

Foto: Screenshot Tagesschau.de/KNA

Bonn (KNA) "Einwanderung, das heißt, in ein neuen Land kommen. Viele Menschen kommen nach Deutschland. Viele Menschen sagen: 'In meinem Land ist Krieg. Deshalb will ich nach Deutschland'." So beginnt Nachrichtensprecherin Susanne Stichler am Donnerstag einen "Tagesschau"-Beitrag über die Forderung der Bundesländer nach konkreten Drittstaaten-Modellen für Asylverfahren. Stichlers Wortwahl und Satzbau klingen ungewohnt. Denn der Beitrag stammt aus der Tagesschau in Einfacher Sprache, einem Angebot, das es seit der vergangenen Woche gibt. Von Montag bis Freitag produziert die "Tagesschau"-Redaktion täglich eine rund sieben Minuten lange neue Ausgabe der "Tagesschau", die man online abrufen kann und die um 19 Uhr im Sparten-Sender Tagesschau24 ausgestrahlt wird. Die "Tagesschau in Einfacher" Sprache soll all den Menschen Zugang zu aktuellen Nachrichten geben, die Probleme haben, komplexe Texte zu verstehen: "Laut der LEO-Studie 2018 lesen und schreiben etwa 17 Millionen Menschen in Deutschland zwischen 18 und 64 Jahren auf Vierte-Klasse-Niveau oder schlechter", schreibt die Redaktion auf ihrer Webseite in eigener Sache. Die Gründe dafür seien vielfältig: "Diese Menschen lernen gerade erst Deutsch oder sie hatten nicht die Chance auf eine gute Bildung. Oder sie haben eine Hör-, Lese- oder Lernschwäche - oder eine Krankheit, wie etwa einen Schlaganfall", heißt es dort weiter. Für all diese Menschen sei das Zusatzangebot der "Tagesschau" gedacht. "Der öffentlich-rechtliche Rundfunk hat den Auftrag, mit seinen Sendungen und Programmen allen Menschen ein Informationsangebot zu machen", wird NDR-Intendant Joachim Knuth zitiert. "Dazu gehören auch diejenigen mit geringer Lese- und Schreibkompetenz, die komplizierten Texten nicht immer folgen können oder die Deutsch nicht auf muttersprachlichem Niveau beherrschen." Die Themen stammen aus der regulären "Tagesschau" und werden von den "Tagesschau"-Sprecherinnen und -Sprechern im normalen Studio verlesen - aber neu aufbereitet, um leichter verständlich zu sein. Die Tagesschau in Einfacher Sprache ist außerdem kürzer als die reguläre Ausgabe und widmet sich nur vier bis fünf Themen pro Tag. Einspielfilme gehören auch dazu, Wortlautbeiträge von Interviewpartnern werden aber nachgesprochen, um auch hier Verständlichkeit zu gewährleisten. Es sei gut und wichtig, dass sich noch mehr Menschen bei der "Tagesschau" fundiert über die Geschehnisse in Deutschland und der Welt informieren und somit am öffentlichen Diskurs teilhaben könnten, so der NDR-Intendant weiter. Das müssen die öffentlich-rechtlichen Anstalten auch anbieten, sagt die Hildesheimer Sprach- und Übersetzungswissenschaftlerin Isabel Rink, die das Projekt wissenschaftlich begleitet, im Gespräch mit dem KNA-Mediendienst: "Im Medienstaatsvertrag, der den öffentlich-rechtlichen Rundfunk in Deutschland regelt, steht drin: 'Die öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten haben die Aufgabe, ein Gesamtangebot für alle zu unterbreiten. [...] Dabei erfolgt eine angemessene Berücksichtigung aller Altersgruppen, insbesondere von Kindern, Jugendlichen und jungen Erwachsenen, der Belange von Menschen mit Behinderung und der Anliegen von Familien.'" Das bedeute, dass alle einen Zugang zu den Angeboten der Öffentlich-Rechtlichen haben müssen, so die Wissenschaftlerin weiter. Dabei soll die Einfache Sprache helfen. Einfache Sprache bedeutet aber nicht einfach nur, dass die Texte etwas verständlicher sind als normale Texte, sondern folgt klaren Regeln. Daneben gibt es auch noch Leichte Sprache, für die noch strengere Regeln gelten. Beide Formen richten sich an unterschiedliche Zielgruppen. Leichte Sprache ist für Menschen mit geistigen oder seelischen Behinderungen gedacht, erklärt Isabel Rink. Viele Nutzer bezeichnen sich selbst auch als Personen mit Lernschwierigkeiten. So dürfen Sätze zum Beispiel nicht zu lang sein, sollten möglichst keine Fremdwörter, keinen Genitiv, kein Passiv und keine Nebensätze enthalten. Auch für die Optik gibt es in der geschriebenen Sprache Vorgaben, zum Beispiel, dass es für jeden Satz eine neue Zeile geben soll. Einfache Sprache sei hingegen für alle fachlichen Laien gedacht, so Rink. Das neue Angebot der "Tagesschau" ist mit "Einfacher Sprache" betitelt. An dieser Bezeichnung entzündete sich nach dem Start des Formats Kritik. Uwe Roth ist Journalist und war an der Erarbeitung der DIN-Normen für Einfache Sprache beteiligt. Er beklagt im Gespräch mit dem KNA-Mediendienst, dass die "Tagesschau"-Redaktion nicht zwischen Leichter und Einfacher Sprache unterscheide: "Der Begriff 'Einfache Sprache' wird hier verwendet, ohne dass die Redaktion die DIN-Normen einhält." Indem die "Tagesschau" sich in der Ankündigung des neuen Angebots auf die LEO-Studie beziehe, begehe sie einen Denkfehler, so Roth weiter: "Nur weil jemand nicht gut lesen kann oder nicht gut Deutsch spricht, muss man für ihn nicht den Inhalt der Nachrichten vereinfachen und alle Begriffe erklären." Er kämpfe ständig gegen das Vorurteil an, dass Einfache Sprache für bildungsferne Menschen gemacht sei: "Das ist falsch. Die DIN-Regeln bewerten die Intelligenz der Lesenden nicht." Die "Tagesschau in Einfacher Sprache" sei vielmehr ein Angebot in Leichter Sprache, das nicht alle Regeln für Leichte Sprache streng befolge, und deswegen den Ausweg über den Begriff "Einfache Sprache" gewählt habe, beklagt Roth. Isabel Rink beschreibt Sprache als Kontinuum. Leichte Sprache mit ihren festen Vorgaben und ihrer gesetzlich klar festgelegten Zielgruppe stehe auf diesem Kontinuum ganz links. Je weiter man nach rechts in Richtung Standard- und Fachsprache rücke, desto mehr reichere man die Sprache in Richtung Einfache Sprache an und lasse zum Beispiel auch mal einen Genitiv oder einfache Nebensätze zu. Die "Tagesschau in Einfacher Sprache" würde Rink in diesem Kontinuum bei Einfacher Sprache einsortieren, aber in leichter Form. "Die Übergänge sind mitunter fließend", sagt die Sprachwissenschaftlerin. Indem man die "Tagesschau in Einfacher Sprache" aber dennoch so verständlich wie möglich gestalte, wolle man möglichst viele Menschen in das Angebot einbeziehen: "Es wäre schade, wenn die Sendung nur für die kleinere Zielgruppe der Leichten Sprache gemacht wäre, weil man sie mit diesem gesetzlich klar definierten Begriff bezeichnet." Stattdessen wolle man, dass jede und jeder individuell nach Kraft der eigenen Selbsteinschätzung entscheiden könne, was man brauche und was man möchte, um am Informationsangebot teilhaben zu können. Ein wichtiger Punkt sei, dass Verständlichkeit für alle Menschen unterschiedlich ist, sagt Rink: "Wir haben uns als Allgemeinbevölkerung viel zu sehr daran gewöhnt, tagtäglich von dysfunktionalen Texten umgeben zu sein. Texte vom Amt, von der Krankenkassen oder der Steuerbescheid sind für uns alle als fachliche Laien eine Hürde." Allein das Wissen, wie man weiter recherchieren und wen man fragen könne, helfe den Menschen im Alltag, diese Probleme zu lösen. "Diese Voraussetzungen sind ja aber nicht für alle Menschen gleich", so Rink weiter. Auch Uwe Roth wünscht sich, dass Einfache Sprache gerade im Journalismus viel mehr zum Alltag wird: "Viele im Journalismus schreiben in Einfacher Sprache, ohne es zu merken." Das bestätigt die Journalistin Constanze Busch, die unter anderem für das Magazin "andererseits" in einer inklusiven Redaktion aus Menschen mit und ohne Behinderung arbeitet: "Wenn man sich die Regeln für Einfache Sprache anschaut, sieht man, dass sie sehr ähnlich zu den Empfehlungen für gute, journalistische Texte sind. Keine Schachtelsätze, sich klar ausdrücken, aktiv schreiben und sich nicht hinter Passivkonstruktionen oder Floskeln verstecken." Würde man alle Empfehlungen beherzigen, die man für das Schreiben guter, journalistischer Texte mal gelernt habe, komme man der Einfachen Sprache automatisch schon sehr nah, so Busch weiter. Damit wäre schon viel gewonnen, meint die Journalistin: "Schätzungen zufolge verstehen 90 bis 95 Prozent der Menschen Einfache Sprache." Das bestätigt Buschs Kollege, der Journalist Nikolai Prodöhl, der ebenfalls für "andererseits" arbeitet und für den "Tagesspiegel" die Kolumne "Inklusiv" schreibt: "Manche brauchen Leichte Sprache, manche Einfache Sprache. Das kommt auf die Beeinträchtigung an. Viele brauchen aber die Leichte Sprache, um alles zu verstehen." Prodöhl, der selbst eine Lern- und Sprachbehinderung hat, findet lobende Worte für das neue "Tagesschau"-Angebot: "Ich habe ein paar Sendungen geschaut und mir hat das gut gefallen. Ich fand die vier bis fünf Nachrichten ziemlich gut, wenn es mehr wären, wären es zu viele Informationen, das kann man sich dann nicht mehr merken." Verbesserungswürdig findet er die Zusammenfassung der Nachrichten am Anfang der Sendung. Die Sprecherin oder der Sprecher liest zunächst immer die Schlagzeilen der Nachrichten vor, bevor er oder sie die Beiträge im Detail vorträgt: "Den Überblick über die Themen finde ich zu schnell", kritisiert Prodöhl. "Das müsste man langsamer machen, die Bilder langsamer zeigen." Positiv bewertet Prodöhl die Mischung aus lustigen und ersten Themen wie Krieg oder Umwelt. Auch die Sprache sei gut für die Zielgruppe geeignet: "Die Sätze sind ziemlich kurz, keine Fremdwörter, das gefällt mir gut." Bei der Auffindbarkeit sieht er aber noch Nachholbedarf: "Man muss lange suchen, wenn man die 'Tagesschau in Einfacher Sprache' auf der Internetseite finden will. Das finde ich ein bisschen mühsam, weil es ganz unten auf der Seite ist." Seine Kollegin Busch stimmt zu: "Die Zugänglichkeit, die Auffindbarkeit sind wichtige Aspekte von Barrierefreiheit, dass man nicht aktiv eine ganze Seite durchscrollen muss, sondern das auf einfache Weise findet." Um das Angebot zu verbessern, arbeitet die "Tagesschau" nach eigenen Angaben mit Menschen aus der Zielgruppe zusammen: "Es wird [...] eine Nutzerabfrage innerhalb der Zielgruppe durchgeführt. Erste Reaktionen und Anregungen aus der Community sind bereits jetzt in die Weiterentwicklung der Sendung geflossen und werden auch künftig gesehen, gesammelt und ausgewertet", sagt eine NDR-Sprecherin dem KNA-Mediendienst. In den täglichen Redaktionsprozess seien sie aber nicht eingebunden, so die Sprecherin weiter: "Die Aufgaben übernehmen erfahrene und im Texten in Einfacher Sprache speziell geschulte Redakteurinnen und Redakteur der 'Tagesschau'-Redaktion." Nikolai Prodöhl kritisiert den Journalismus in Deutschland dabei allgemein für fehlende Vielfalt: "Es müssten mehr Menschen mit Beeinträchtigung in den Redaktionen arbeiten. Ich und andere kennen sich ja aus mit Inklusion und Teilhabe, mit der Leichten und der Einfachen Sprache. Wir können dann mit übersetzen, uns kann man nach unserer Meinung fragen." Prodöhl vermutet, dass Formate in Leichter und Einfacher Sprache vielen Redaktion zu mühsam und zu teuer seien. "Es gibt zu wenige Angebote. Ich würde mir wünschen, dass man gar nicht danach fragen muss, sondern dass es selbstverständlich wird, dass es das gibt."

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