München (KNA) Es ist nun fünf Jahre her, dass der Präsident des Oberlandesgerichtes (OLG) in Nürnberg, Thomas Dickert, bei einer Jahreskonferenz der Oberlandesgerichte einige Vorschläge zur Modernisierung des Zivilprozesses machte. Sein Diskussionspapier habe "einigen Wirbel ausgelöst", erinnert er sich heute im Gespräch mit dem KNA-Mediendienst. Da ging es zum Beispiel um "die 'virtuellen Verhandlung' per Videokonferenz, bei der sich auch das Gericht nicht im Sitzungssaal aufhalten muss." Die Öffentlichkeit sollte gewährleistet werden, indem die Verhandlung zeitgleich in einen vom Gericht bestimmten Raum in Bild und Ton für das Publikum und die Medien übertragen wird. Damals seien noch einige Richter skeptisch gewesen. Nach Corona und aufgrund des Drucks zur Veränderung sei heute jedoch allen klar, dass die Justiz digitaler werden muss. "Die Bedenkenträger werden weniger", sagt Dickert. Nur: Wie digital soll die Justiz werden? Für Gerichte, die seit Kaiserzeiten in Prachtbauten residieren und Urteile scheinbar nur widerwillig veröffentlichen, klangen auch die anderen Vorschläge von Dickert revolutionär, etwa: "Der uneinheitlichen Veröffentlichungspraxis der Gerichte soll durch eine Regelung, dass eine Veröffentlichung von Entscheidungen (Urteilen und Beschlüssen, auch Zwischenentscheidungen) bei grundsätzlicher Bedeutung erfolgen soll, entgegengewirkt werden. Zu einem späteren Zeitpunkt, zu dem eine zuverlässige automatisierte Anonymisierung von gerichtlichen Entscheidungen möglich ist, sollen sämtliche Entscheidungen interessierten Außenstehenden zugänglich gemacht werden." Vor allem mit dem großen Aufwand, Prozessentscheidungen zu anonymisieren, hatten viele Kammern immer wieder ihre Zurückhaltung begründet, Entscheidungen allgemein zugänglich zu machen. Was sich vor gerade einmal fünf Jahren noch recht utopisch anhörte, soll nun aber umgesetzt werden. Noch liegt die Zahl der veröffentlichten Urteile in den meisten Ländern aber im einstelligen Prozent-Bereich, nur bei den obersten Bundesgerichten sieht das anders aus. Dabei können Journalistinnen und Journalisten grundsätzlich die Veröffentlichung einzelner Urteile beantragen und einfordern. Tina Haase, Richterin und Pressesprecherin des Oberlandesgerichtes Nürnberg, betont: "Die Presse kann sich auf die Pressegesetze der einzelnen Bundesländer stützen und auch auf Art. 5 Grundgesetz." Der Auskunftsanspruch sei aber nicht schrankenlos, beispielsweise könne das Steuergeheimnis entgegenstehen. Es gäbe eine Vielzahl von Gerichtsentscheidungen, auch Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, die dem Anspruch zugrunde lägen oder ihn einschränkten. Allgemein sei es so, dass die Veröffentlichung von Urteilen von der Gerichtsverwaltung des jeweiligen Gerichts ausgeführt werde, die hierfür konkrete veröffentlichungswürdige Entscheidungen auswählen könne. Es sei beispielsweise zwischen Zivil- und Strafurteilen zu differenzieren, weil unterschiedliche rechtliche Vorgaben bestünden und auch die Vorschriften für die Gewährung von Akteneinsicht - die in der jeweiligen Verfahrensordnung geregelt sind (§ 299 Abs. 2 Zivilprozessordnung oder § 475 Strafprozessordnung) zu beachten seien. In Zivilsachen könnten auch private Dritte anonymisierte Urteilsabschriften erhalten. Strafurteile enthielten teilweise bis in den Kernbereich des Persönlichkeitsrechts hineinreichende Angaben insbesondere über den Verurteilten, das Opfer der Straftat oder über das Tatgeschehen selbst, bei denen kaum je auszuschließen sei, dass ein Personenbezug trotz Anonymisierung hergestellt werden könne. "Für Medienvertreter gelten diese Einschränkungen aber nicht, weil der Anspruch auf eine (anonymisierte) Urteilsabschrift auf dem presserechtlichen Auskunftsanspruch beruht." "Zivilprozess der Zukunft" - unter diesem Titel beraten Gerichte der Länder und des Bundes seit Jahren Reformen. Bis November wollen jetzt mehrere Arbeitsgruppen festlegen, welche Reformen der Zivilprozessordnung für eine umfassende Digitalisierung nötig sind. Vergangene Woche trafen sich Beamte der Justizministerien von Bund und Ländern, sowie Richter, Wissenschaftler und Vertreter aus Unternehmen und von Verbraucherorganisationen in Berlin und berieten die Anwendung von KI. Ergebnis soll ein Leitbild sein, wie das bayerische Justizministerium auf Anfrage des KNA-Mediendienstes schreibt. Für Video-Verhandlungen haben Bundestag und Bundesrat bereits ein Gesetz beschlossen. Es liege beim Bundespräsidenten zur Unterschrift. Um Vertrauen in den Rechtsstaat zu schaffen, sei Transparenz wichtig, sagt OLG-Präsident Thomas Dickert. Die Veröffentlichung von Urteilen ist laut Bundesverwaltungsgericht und Bundesverfassungsgericht eine grundlegende Aufgabe der Gerichte, so Dickert. Tatsächlich aber lägen die Quoten im einstelligen Prozent-Bereich. Gerichte kämen ihrer Pflicht nicht ausreichend nach, etwa weil sie Anforderungen für die Anonymisierung wegen Personalmangels nicht bewältigen könnten. Dickert sagt, eigentlich müsste jedes Urteil und jeder wichtige Beschluss öffentlich sein. "Die Urteile gehören nicht den Gerichten, sondern dem Volk." Das Justizministerium von Niedersachsen bestätigt gegenüber KNA die niedrige Quote der veröffentlichten Urteile im einstelligen Bereich. Ein Forschungsprojekt der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg zielt nun darauf, eine größere Anzahl von Urteilen automatisiert veröffentlichen zu können. Bei der Veröffentlichung geht es allerdings offenbar nicht vorrangig um Transparenz, sondern um Grundlagen für das Funktionieren von KI. Der bayerische Justizminister Georg Eisenreich sagt auf Anfrage von KNA: "Wir brauchen für Legal Tech- und KI-Anwendungen ausreichend Daten. Wir werden dazu einen Beitrag leisten und in den nächsten drei Jahren mindestens 50.000 Entscheidungen aus der bayerischen Justiz anonymisieren und veröffentlichen." In einem Pilotprojekt am Amtsgericht Erding bei München macht KI beispielsweise schon jetzt Vorschläge für Textbausteine für Urteile bei sogenannten Massenverfahren wie Fluggastklagen, die einzelne Amtsgerichte massiv belasten. In welchem Umfang Gerichte schon heute Urteile veröffentlichen, ist dabei unterschiedlich. Benjamin Hoh, Sprecher des Bundesjustizministeriums, zur KNA: "Die obersten Gerichte des Bundes veröffentlichen bereits sämtliche mit Gründen versehenen Entscheidungen. Zahlen über die Veröffentlichungsquote der Instanzgerichte der Länder liegen dem Bundesministerium der Justiz nicht vor." Hoh verweist an die zuständigen Behörden der Länder. Neuere Untersuchungen der Veröffentlichungspraxis kommen zum Ergebnis, dass weniger als fünf Prozent aller Gerichtsentscheidungen auf den öffentlich zugänglichen Rechtsprechungsportalen veröffentlicht werden. Wird KI die geringe Zahl an veröffentlichten Urteilen erhöhen? Dazu schreibt das Bundesjustizministerium: "Die Veröffentlichung von Gerichtsentscheidungen erfolgt nur nach Anonymisierung von schutzwürdigen Informationsinhalten, insbesondere personenbezogener Daten. Die erforderliche Anonymisierung ist aufwendig, da sie derzeit häufig noch manuell durchgeführt werden muss. KI-gestützte Anwendungen zur automatisierten Anonymisierung können zukünftig helfen, die Prozesse zu beschleunigen und damit auch zu einer breiteren Verfügbarkeit von Gerichtsentscheidungen führen." Das Justizministerium von Nordrhein-Westfalen antwortet auf KNA-Anfrage, die entsprechende Datenbank enthalte 198.033 veröffentlichte Urteile; jährlich komme eine vierstellige Zahl dazu. Dabei hänge die Zahl der veröffentlichten Urteile maßgeblich von der Zahl der Anträge ab. Grundsätzlich würden alle Entscheidungen eingestellt, an denen die Öffentlichkeit Interesse habe. Anträge könnten zentral über nrw.de gestellt werden und würden "mit hoher Priorität" an zuständige Gerichte weiter geleitet. Diese würden ein öffentliches Interesse nur in Ausnahmefällen verneinen. Bei einer Tagung im Mai in München kamen die Präsidentinnen und Präsidenten der Oberlandesgerichte auch überein, dass Gerichte mehr in den sozialen Medien präsent sein sollen, um Zugänge zum Recht auf Instagram oder TikTok zu erklären. Erst rund ein Drittel der 24 Oberlandesgerichte bundesweit arbeite heute mit Instagram, sagt die Präsidentin des OLG Celle, Stefanie Otte. Sie spricht "von einem gewissen Dilemma", dessen zentrale Frage sei: "Was ist machbar in der kurzen Aufmerksamkeitsspanne?" Denn: "Keiner von uns will auf TikTok tanzen."