Volles Risiko - ProSiebenSat.1 investiert Milliarden in Joyn

Von Christian Bartels (KNA)

TV-MARKT - ProSiebenSat.1 investiert kräftig in die Programme seiner Fernsehsender - und in seinen prallvollen "Superstreamer", die nonlinear-lineare Plattform namens Joyn.

| KNA Mediendienst

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"Der Upir"

Foto: Christoph Köstlin/Seven.One Entertainment Group/Joyn/KNA

Hamburg (KNA) Eines der ersten prominenten Gesichter im aktuellen Image-Trailer des Streaminganbieters Joyn gehört Oliver Welke. Dem Frontmann der ZDF-Comedysendung "heute-Show" entfährt so etwas wie "Yeah!", was die Trailer-Behauptung zu bestätigen scheint, dass man auf Joyn "das Beste" sähe. Wenig später sind, auch kurz, seine Senderkollegen Horst Lichter und Jan Böhmermann zu sehen. Öffentlich-rechtliche Gesichter werben für die von der ProSiebenSat.1 Media SE (P7S1) betriebene Plattform, wie das? Nun, das gehört zum originären Prinzip von Joyn, das P7S1 als "den deutschen Superstreamer" bezeichnet. Es handelt sich sowohl um eine Sammel-Mediathek, die die Sendungen der linearen P7S1-Fernsehsender und weitere Inhalte nonlinear zum Abruf anbietet, als auch um eine Möglichkeit, linear Live-Fernsehen zu sehen. Lange war bei P7S1 von 60 oder 70 Kanälen die Rede. Bei einer Presse-Präsentation vergangene Woche in Hamburg sprach P7S1-Chief Content Officer Henrik Pabst dann vom "breitesten Angebot aller Streamer in Deutschland" mit an die hundert Kanälen. Die stattliche Zahl kommt zustande, weil neben den sieben linearen P7S1-Fernsehsendern Pro Sieben, Sat.1 und Kabel Eins, ProSieben Maxx, Sat.1 Gold, Kabel Eins Doku und Sixx, weitere private wie Axel Springers Welt und Eurosport und zunehmend FAST-Channels dazu kommen. Dieses Akronym steht für "Free Ad Supported Streaming", also kostenlose Streamingkanäle, die ebenfalls Werbeeinnahmen erzielen sollen und meist um einzelne Sendungen kreisen, von denen es sehr viele Folgen gibt. Daran herrscht kein Mangel im P7S1-Kosmos. Von der wohl langlebigsten ProSieben-Attraktion "Germany's Next Topmodel", die im linearen Fernsehen 2025 in ihre 20. Staffel gehen wird, bis zur sehr ehemaligen Sat.1-Serie "Hausmeister Krause" bietet Joyn viele solcher FAST-Channels. Vor allem aber entdeckt man: sämtliche der bekanntlich vielen öffentlich-rechtlichen Sender. Die beiden ersten Programmplätze im "Live-TV"-Menü belegen das Erste und das Zweite, ARD und ZDF. Die ZDF-Gesichter werben also für sich selbst. Die Öffentlich-Rechtlichen werden von P7S1 seit langem umworben und beharrlich auf eine "branchenverbindende Streaming-Plattform, der die Menschen vertrauen können", eingeladen. Der privaten Plattform aber auch Abruf-Inhalte und damit ihre Mediatheken zur Verfügung zu stellen, zogen und ziehen ARD und ZDF offenkundig nicht in Betracht. Aber ihre vielen Programme auf vielen Wegen zu verbreiten, solange ihr Logo zu sehen ist, dagegen haben sie nichts. In Hamburg gab sich P7S1 weiter vom "Superstreamer"-Konzept überzeugt. Pabst sprach von einem "erfolgreichen Wachstumskurs" mit jeweils neuen Rekordzahlen in den letzten drei Quartalen. Konkretere Zahlen als 6,5 Millionen monatliche Joyn-Nutzer im ersten Quartal 2024 (nach 3,8 Millionen im letzten Quartal 2023) nennt P7S1 allerdings nicht. Das muss nicht unbedingt skeptisch machen. Anbieter wie Netflix veröffentlichen auch nur selektiv Zahlen zu Werbezwecken. In Hamburg wurden viele Programm-Attraktionen fürs zweite Halbjahr 2024 verkündet. Auffällig auch, wovon gar nicht die Rede war: von Berlusconi. Die inzwischen von Pier Silvio Berlusconi, dem Sohn des einstigen italienischen Ministerpräsidenten und Medien-Schreckgespensts Silvio geführte Media for Europe (MFE), ist mit rund 30 Prozent der größte Gesellschafter der Unterföhringer Aktiengesellschaft. Auf der P7S1-Hauptversammlung Ende April scheiterte MFE knapp mit dem Antrag, das Unternehmen in einen Fernsehzweig und einen für Internetgeschäfte wie die Dating-Plattformen ("Parship" und "Elite Partner") und den Online-Parfümhändler "Flaconi" aufzuspalten. Bei anderen Anträgen konnte sich MFE durchsetzen. Schon weil mindestens zwei MFE-Vertreter im Aufsichtsrat sitzen, dürfte P7S1 unter schärferem Druck stehen. Beim derzeit zweitgrößten P7S1-Aktionär mit etwa halb so vielen Aktien handelt es sich um die tschechische PPF Group, die im Fernsehmarkt Tschechiens und weiterer, vor allem südosteuropäischer Länder aktiv ist. Das macht die Sache nicht übersichtlicher. Von Berlusconi-Plänen, ein europäisches Sender-Netzwerk zu etablieren, war in Hamburg keine Rede. Vielmehr soll offenkundig mit einer Menge Investitionen Joyn gestärkt werden. Man habe Personal abgebaut die Dividende deutlich gekürzt, um ins Programm zu investieren, heißt es von P7S1-Managern. Tatsächlich wurden im Geschäftsjahr 2021 noch 80 Cent, 2022 und 2023 dagegen nur noch 5 Cent pro Aktie ausgeschüttet. Die Investitionen ins eigene Programm sollten 2024 dagegen "um rund 80 Millionen Euro auf etwa 1,05 Milliarden Euro" steigen, hatte der Konzern schon Ende 2023 mitgeteilt. Warum Joyn im harten Wettbewerb nicht nur mit den beitragsfinanzierten öffentlich-rechtlichen Mediatheken und dem RTL+-Angebot des Bertelsmann-Konzerns, sondern überdies mit milliardenschweren, globalen Angeboten US-amerikanischer Plattformen bestehen wird? Weil Joyn als einzige Plattform das Publikum keine Abo-Gebühren kostet, sagen P7S1-Vertreter. Inzwischen, da sogar kostenpflichtige Wettbewerber wie Netflix und Amazon ihren Abonnenten Werbung einspielen, würde das zusehends geschätzt. Obwohl die Sendergruppe in Hamburg gar nicht alles vorstellte, was sie bei "Screenforce", der an Werbekunden gerichteten TV-Branchen-Veranstaltung im Juni in Düsseldorf, präsentiert hatte, wird es bei all den Ankündigungen schnell unübersichtlich. Schon weil Joyn jenseits der Mediatheken- und Live-Fernseh-Bündelung überdies eine eigenständige Mediathek darstellt. Heißt: Eigene "Originals", also nicht zur linearen Ausstrahlung auf einem der Sender vorgesehene Serien, gibt es auch noch. Dazu gehört die fiktionale Serie "Der Upir" mit Fahri Yardim und dem Hamburger Original Rocko Schamoni. Yardim war neben Christian Ulmen Star der bislang erfolgreichsten Joyn-Serie "Jerks", der das Kunststück, Fremdschäm-Unterhaltung anzurichten, wohl besser als irgendeiner anderen deutschen Produktion gelang. Bei Upiren handelt es sich um zwar bereits gebissene, doch noch nicht unumkehrbar selbst zu Vampiren gewordene Menschen. Das dürfte wieder lustig werden. Die Produktion der Bertelsmann-Firma Ufa sei ein Genremix, wie es ihn "in Deutschland noch nicht gibt", sagt Joyn-Programmchef Thomas Münzner. "StiNos", so eine weitere neue Serie, steht für "Stinknormal" und erzählt von einem besonders fremdbestimmten Ehepaar mittleren Alters, das das Schauspieler-Paar Johanna Christine Gehlen und Sebastian Bezzel ersann und verkörpert. "Die KeKs", das steht nicht etwa für die Kommission zur Ermittlung der Konzentration im Medienbereich (KEK), mit der P7S1 schon Erfahrungen machte, als vor Jahren der Axel Springer Verlag den TV-Konzern übernehmen wollte. Sondern im Jugendslang für "Versager" und erzählt von Schülern meist mit Migrationshintergrund. Besonders viel Hoffnungen setzt P7S1 in die Reality-Serie "Dr. Rick und Dr. Nick" um zwei real praktizierende, längst nicht nur Botox spritzende junge Schönheitsärzte, die Einblicke in ihr glamouröses oder, wie sie selber sagen: "sehr, sehr geiles Leben" geben. Nicht zuletzt soll das Publikum gespannt sein, "welcher Promi was hat machen lassen". Auch wenn alle Produktionsplanungen auf Joyn ausgerichtet seien, geizen die Sendergruppen-Sender nicht mit eigenen Attraktionen. Pro Sieben, der wichtigste lineare Sender der Gruppe, verspricht nicht nur allerhand Shows sowohl unter dem wiedereingeführten Label "TV total" ("TV total Promi Wrestling", "TV total Turmspringen"). Sondern auch "Die Superduper Show". Hier wird Moderatorin Katrin Bauerfeind mit den aktuell aus einer Reality-Serie bei Netflix (und aus viel Werbung) bekannten Tokio Hotel-Brüdern Bill und Tom Kaulitz sowie noch weiteren Prominenten auftreten. Aber auch sechs gesellschaftlich relevante Reportagen auf 20.15 Uhr-Sendeplätzen kündigt Pro Sieben fürs zweite Halbjahr an. Nachdem die wöchentliche Sendung "Zervakis & Opdenhövel live" im Dezember 2023 endete, war unklar, was die 2022 von der ARD-"Tagesschau" zum Privatsender gewechselte Linda Zervakis machen wird. "Ich bin in die Dokuschiene eingestiegen", sagte sie in Hamburg. Für die Doku "Kann KI die Demokratie retten?" sprach sie mit Politikern wie Jens Spahn (CDU) und Anke Domscheit-Berg (Linke), aber auch einem AfD-Vertreter sowie einem ihr selbst nachgebildeten Avatar. Reporter Jenke von Wilmsdorff geht der "Macht der Kartelle" aus Mexiko nach, die neben dem Drogenhandel nach Europa auch den legalen Handel mit Avocados beherrschen. Unter dem pfiffigen Titel "Forrest Trump" bereist der preisgekrönte Reporter Thilo Mischke zu den Präsidentschaftswahlen die USA nach dem Muster des fast gleichnamigen, 30 Jahre alten Kinofilms ["Forrest Gump"], um herauszufinden, was aus dem Amerikanischen Traum geworden ist. Die spektakulärste P7S1-Personalie gelang allerdings Sat.1: Der umtriebige "Bild"-Reporter Paul Ronzheimer wird ab Herbst die, wie er in Hamburg sagte, "Mega-Herausforderung" annehmen, 90-minütige Reportageformate für den 20.15 Uhr-Sendeplatz zu recherchieren und zu präsentieren. In der ersten Ausgabe der unregelmäßigen Reihe unter dem Titel "Ronzheimer - Wie geht's, Deutschland?" soll es um das Thema Migration gehen. Das dürfte Interesse weit über die Sat.1-Zielgruppe hinaus erregen. Daneben investiert Sat.1 kräftig ins Vorabendprogramm. Sozusagen bergeweise Episoden fiktionaler Serien aus "deutschen Sehnsuchtsregionen" versprach der Sender. Gleich 120 neue Folgen der am Schliersee angesiedelten Serie "Die Landarztpraxis" wurden beauftragt. Neu hinzu kommen jeweils 80 Folgen der ndF-Produktion "Die Spreewaldklinik" mit Muriel Baumeister und Karsten Speck, sowie der Daily "Für alle Fälle Familie". Diese Serie um eine Familienrichterin, die wieder bei ihrer Mutter an der Mosel einzieht, produziert die öffentlich-rechtliche Bavaria Fiction. Erinnert "Die Spreewaldklinik" nun eher an die Spreewaldkrimis oder an die "Schwarzwaldklinik"? Jedenfalls ans ZDF! Vor allem die Ankündigungen von Sat.1 wirken, als stünde das duale System noch in voller Blüte. Der medienpolitische Begriff entstand vor 40 Jahren, als, ähnlich spät wie umstritten, auch in Deutschland Privatfernsehen eingeführt wurde. Heute werden lineare Fernsehsender aller Art durch milliardenschwere globale Plattformkonzerne wie Google mit Youtube, Amazon und Netflix marginalisiert. Genau an diesem Punkt setzt die Idee an, einen gemeinsamen Wettbewerber mit Sitz in Deutschland zu schaffen, eben Joyn. Allerdings bleibt es - vorläufig? - unvorstellbar, dass RTL seine Inhalte bei P7S1 einbringt oder ARD und ZDF noch stärker einsteigen. Ob es P7S1 nun mit massiven Investitionen in eine prallvolle Wundertüte voller Programmideen für offenkundig ziemlich unterschiedliche Zielgruppen gelingt, mit Joyn abzuheben, wird spannend. Wenn nicht, dürfte der mittelfristig die Eingliederung ins italienisch-spanische Fernsehimperium der Berlusconis bevorstehen.

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