Berlin (KNA) "People, Planet, Prosperity" lautete der Titel des dpa-Geschäftsberichts 2022, und man rieb sich mit leichtem Erstaunen die Augen: Machte die ach so seriöse Deutsche Presse-Agentur hier etwa auf dicke Hose? Nun geht es hier um die gesamte dpa-Gruppe, die mittlerweile deutlich mehr als das reine Geschäft mit der Nachricht betreibt. Ein Jahr später heißt es auf dem Cover der Kennzahlen für 2023 "75 Jahre dpa. Die Zukunft gestalten". Denn nicht nur das Grundgesetz feiert in diesem Jahr Geburtstag, sondern auch die für die Bundesrepublik Deutschland grundsätzliche Nachrichtenagentur. Der neue Geschäftsbericht beschäftigt sich daher viel mit Zukunft. "Wir alle wissen: Der Journalismus steht unter Druck. Viele Menschen wenden sich von den etablierten Medien ab, das Vertrauen sinkt - insbesondere bei der sogenannten Generation Z", heißt es in einer Art Vorrede. Deshalb hat dpa im Bericht junge Menschen vom dpa-Social News Desk in den Mittelpunkt gestellt. "Als ein modernes, diverses und innovatives Unternehmen wird die dpa auch in Zukunft einen wichtigen Beitrag für unsere Branche leisten. Daran glauben wir fest", heißt es weiter. Einer, der ganz fest daran glaubt, ist Sven Gösmann. Seit 2014 ist er dpa-Chefredakteur und feiert dieses Jahr also auch ein Jubiläum. Nicht, dass man beim Besuch in der Rudi-Dutschke-Straße 2 im alten Berliner Zeitungsviertel viel davon merken würde. Hier sitzt der dpa-Newsroom seit dem Spätsommer 2023 im Erdgeschoss der ehemaligen Springer-Passage, die der benachbarte Großkonzerne nicht mehr so richtig braucht. Gösmann, 1966 in Niedersachsen geboren, hat bei der "Braunschweiger Zeitung", bei der "Welt" in Berlin und beim Bremer "Weser-Kurier" gearbeitet. Er war zwischendurch auch stellvertretender Chefredakteur der "Bild" und dann fast zehn Jahre lang der erste Mann bei der in Düsseldorf erscheinenden "Rheinischen Post". Von dort wechselte der Print-Mensch Gösmann ins Agenturgeschäft. Gibt es einen Moment der dpa-Geschichte, bei dem er schon früher gern mit dabei gewesen wäre? Gösmann überlegt kurz, die Gründungsphase, "auch das Ringen darum, demokratischen Journalismus in Deutschland zu etablieren", dazu der Zoff mit Adenauer in den 50er Jahren, hätten ihn natürlich gereizt. Der erste Kanzler hatte keine Hemmungen, Medien im parteipolitischen Sinne zu instrumentalisieren, und die noch junge und in den ersten Jahren wirtschaftlich in schwerem Fahrwasser agierende Nachrichtenagentur machte da keine Ausnahme. Doch auch die CDU-treuen Verleger im bis heute genossenschaftlich organisierten dpa-Verbund zeigten dem Kanzler die kalte Schulter. Unabhängigkeit, sagt Gösmann gut sieben Jahrzehnte später, sei auch heute noch das höchste Gut. Das passt auch zu Moment Nummer 2, bei dem er gern schon an Bord gewesen wäre: Die frühe Phase der Vereinigung der beiden deutschen Staaten, "wo es darum ging - sicherlich auch noch mit dem Blütentraum von Kohl im Kopf - unser System in ein unfreies Land zu übertragen", so Gösmann. Alles, was danach kam, seien ja eher technisch-evolutionäre Schritte: Das Web, der iPhone-Moment, die sozialen Medien. Diese Unabhängigkeit zeichnet auch den deutschen Agenturmarkt aus. Weltweit, sagt Gösmann, gebe es 120 Nachrichtenagenturen. "Davon sind aber nur ungefähr 20 das, was ich mal "freiheitlich arbeitend" nennen würde. Unsere große Schwester aus den USA, die Associated Press, Reuters natürlich. Aber schon bei Agence France Presse trägt der französische Staat einen großen Teil zu den Erträgen bei." Im internationalen Vergleich ist Deutschland ein ziemlich eng besetzter Agentur-Markt. Neben der dpa tummeln sich auch Reuters und die schon erwähnte Agence France Presse (AFP) mit einem deutschen Dienst, dpa selbst liefert als Partner der Associated Press aus den USA deren Weltnachrichten auf Deutsch. Dazu kommen die konfessionellen Angebote des Evangelischen Pressedienstes (epd) und der KNA. Für die dpa seien das "aber keine Mitbewerber, sondern eher Partner: Mit der AFP arbeiten wir an anderen Stellen zusammen, mit der KNA und mit epd haben wir gute Gespräche. Diese Konkurrenz unter den Agenturen ist wirklich nicht unser Fokus, sondern die Frage: Wie schaffen wir es, dass dpa-Kunden mit unserem Material arbeiten und Erfolg haben", sagt Gösmann. Und das bedeutet Schritt halten mit dem sich ändernden Mediennutzungsverhalten - aber auch immer Mittler zu sein zwischen den neuesten Entwicklungen und den Bedürfnissen der Kunden. "In Deutschland bleibt der Markt spannend, wobei der Wettbewerb sich hier ein bisschen von den Agenturen wegentwickelt hat" sagt Gösmann. "Unser wichtigster Wettbewerb ist ja der um die Aufmerksamkeit der Menschen, die heute teilweise ganz andere Medienangebote nutzen." Die Agenturen des 21. Jahrhunderts hießen eben TikTok, Google-Showcase oder Google-News. "Sie heißen Facebook, Instagram, Snapchat. Morgen wird es schon wieder was Neues geben - und die entscheidende Frage lautet: Wie können wir es zusammen mit unseren Kunden schaffen, dass sie auch in diesen neuen Medien-Märkten eine Rolle spielen." Die Antwort der dpa lautet Video. "Video hat mehr, um nicht zu sagen alles", sagt Gösmann. "Sie haben immer einen Augenzeugen, eine Augenzeugin vor Ort. Sie haben Bewegtbild, Sie haben Ton, Sie können daraus Meldungen machen, Hintergründe für alle Ausspielwege". Ganz nebenbei fällt dabei noch die deutsche (Un-)Sitte der Autorisierung weg, die nach Gösmanns Meinung hierzulande manchmal absurde Züge annimmt. Jedenfalls wenn die ursprüngliche Idee, Fehler und Missverständnisse zu vermeiden, ignoriert wird und Politiker oder ihre Sprecherteams "glauben, ganze Fragen und Antworten neu schreiben zu können". Die dpa ist im Moment dabei, ihr Videoangebot stark auszubauen. "Bei Großereignissen wie der Flut im Ahrtal waren wir einer der wichtigsten Lieferanten für alle deutschen Fernsehsender und für überregionale Plattformseiten", sagt Gösmann. Ein Geschäft, auf das sich das ganze Unternehmen konzentriert "und auf das ich mich auch als Chefredakteur fokussiere". Wenn Bundesaußenministerin Annalena Baerbock (B90/Grüne) in einer Diskussion mit einem Gegner bei einer Wahlkampfveranstaltung aneinandergerate, gäbe es das schließlich schon heute aus 20 verschiedenen Blickwinkeln auf Social Media, weil alle ihre Handys dabeihaben. "Dann willst du das auch sehen", sagt Gösmann, "und neben der klassischen textlichen Beschreibung wissen, wie war denn das? Wie hat sie reagiert? Wie sah der Protestierende aus?" Doch Video allein macht noch keine Zukunft, dazu habe das Netz unsere Sehgewohnheiten und unseren Nachrichtenkonsum schon jetzt zu stark verändert. "Das fordert uns genauso heraus wie das lineare Fernsehen. Also mit vorfahrenden Politikerlimousinen kann ich heute nicht mehr kommen", sagt Gösmann und ignoriert die Anmerkung, dass man vor allem in klassischen TV-Nachrichtensendungen mit derlei Bildern immer noch reichlich konfrontiert ist. Dem dpa-Chefredakteur geht es um eine grundsätzliche Neuorientierung: "Wir sind alle auf dem Weg. Wir müssen anders schreiben und endlich aufhören, diese Expertenperspektive einzunehmen." Journalisten sollte endlich "voraussetzungsfrei die Fragen beantworten, die die Leute wirklich haben. Und die lauten "Ist der Mindestlohn brutto oder netto?", "Was ist eigentlich Aphasie? Kann ich das auch kriegen, woran merke ich das?" Früher hätte man über so was die Nase gerümpft und lieber für die Kollegen in der Landespressekonferenz aufgeschrieben, was der Ministerpräsident eigentlich gemeint habe, sagt Gösmann: "Die Menschen interessiert aber, was mit der Bahnlinie zwischen Oldenburg und Bremen los ist" - und schiebt mit hübscher Ironie hinterher: "Das ist manchmal ne harte Nachricht für uns Journalisten." Entsprechend hat auch die dpa ihr Recruiting umgekrempelt. Oder ist zumindest dabei. "Wir haben eine Diversitäts-AG, sind aber noch nicht da, wo wir hinwollen. Wir arbeiten an mehr Perspektivenvielfalt, dazu gibt es interne Weiterbildungsformate." Aber die Redaktion müsse vor allem versuchen, auch andere Perspektiven einzunehmen. "Ich setze sehr darauf, dass die Kolleginnen und Kollegen sehen, was digital funktioniert und dass das etwas mit ihnen und ihrer Herangehensweise an Geschichten macht", hofft Gösmann. Und trotzdem: "Ein paar Fragen erreichten uns schlicht nicht, auch unser Newsrooms ist zu weiß, manchmal auch zu alt und zu hoch gebildet, so merkwürdig vor allem das Letzte klingt." Bei der "Rheinischen Post" in Düsseldorf habe er noch eine ganze Reihe Kollegen gehabt, "die nicht studiert hatten, und die einfach so ihren Weg in den Journalismus gefunden haben", erinnert sich Gösmann. Daneben muss auch die dpa damit leben, dass interessierte Kreise gerade im Nachrichtenbereich mit Desinformation und Manipulationen unterwegs sind. Fact Checking hieß früher vielleicht anders, war für eine Nachrichtenagentur aber immer unverzichtbar. Doch die Herausforderungen sind immens gestiegen. "Gott sei Dank waren wir früh mit dabei, 2017 kam Mitarbeiter Number One, unser Verification Officer Stefan Voß", sagt Gösmann. Heute sind es 40. Und von Entwarnung kann keine Rede sein: "Die Lüge ist immer schneller als die Wahrheit", deshalb gehe es heute darum, möglichst viele Menschen zu schulen, damit sie erkennen können, was ein Fake ist. "Allerdings starren wir immer noch sehr auf die sogenannten Fake News, aber Desinformation und Propaganda beginnen ganz woanders", sagt Gösmann. "Ich bin hier nicht fatalistisch und sage, es ist ein Kampf gegen Windmühlen." Aber es bleibe schwierig, weil viele Menschen bestimmte Dinge glauben wollten und gar nicht mehr mit Äußerungen, die ihren Standpunkt widerlegten, in Kontakt kämen - "oder diesen Äußerungen dann nicht mehr vertrauen". Was kann der Journalismus hier tun? "Ich glaube, wir müssen uns hier genauso hinterfragen wie die Politik", sagt Gösmann. Die müsse schließlich auch Antworten auf die Fragen der Menschen finden und nicht nur Antworten simulieren. "Der Journalismus muss zum Teil seine Herangehensweise verändern und andere Stimme zulassen. Er muss auch aushalten, wenn diese Stimmen zum Beispiel in Talkshows eine größere Rolle spielen als bisher", meint der dpa-Chef. Wobei er sich wie alle bei der Agentur mit Fernsehauftritten sehr zurückhält, auch im Sinne der Kundenorientierung: "Denn neben der Tatsache, dass wir uns neutral verhalten wollen, heißt das ja auch immer, dass wir einem Kunden den Platz wegnehmen." Aber wie geht es weiter im Wettbewerb zwischen den alten Medien, die noch zu einem Großteil die Gesellschafter der dpa sind, und den neuen Playern? Machen der dpa die immer mächtigeren Zentralredaktionen der großen Medienhäuser wie Madsack, Funke und all der anderen Sorgen? Sie übernehmen schließlich immer mehr selbst die Funktion von Agenturen, deren Nachrichten dann wieder von anderen Medien zitiert werden. "Wir sind erstmal dafür da, dass unsere Kunden glänzen", sagt Gösmann. Weicht er hier ein bisschen aus? Nein, sagt der dpa-Chef. Das Redaktionsnetzwerk Deutschland von Madsack sei doch ein "Heavy User" der dpa-Berichterstattung. "Und das ist erstmal ein gutes Signal." Daneben läuft auch das Geschäft mit den großen Plattformen und Anbietern wie gmx oder t-online. "Alle großen Reichweitenplattformen sind für uns ganz wichtige Partner", schließlich sei das ja weiter das klassische Agenturmodell: "Wir beliefern jemanden schnell mit Inhalten, damit der Reichweite erzielen kann", so Gösmann. Was aber doch wieder den Angeboten der klassischen Medienkunden der dpa Konkurrenz macht! Gösmann kontert mit einem Satz des langjährigen dpa-Aufsichtsratsvorsitzenden David Brandstätter. Der Geschäftsführer der "Main-Post" hatte 2014 die Leitung des Gremiums übernommen und ist heute dessen Ehrenvorsitzender. Brandstätter habe immer gesagt, die dpa müsse mit denselben Anbietern Geschäfte machen können, mit denen auch die dpa-Gesellschafter Geschäfte machen. Sonst würde man "seine eigene Dienstleistung als Agentur ja abschneiden von der Transformation des Journalismus", sagt Gösmann. Schließlich baue heute auch keiner mehr eine Druckerei, sondern alle versuchten, digitale Geschäftsmodelle zu entwickeln. Ist es dann ein Problem für die dpa, dass im Digitalen lokale und regionale Inhalte deutlich besser funktionieren als das Überregionale, für das eine Agentur bei allen Landesdiensten vor allem steht? Gösmann überlegt kurz und verweist auf das Drive-Projekt. Drive steht für "Digital Revenue Initiative", hier haben sich die dpa und rund 30 deutschen Regionalzeitungstitel plus die Agentur Highberg als technischer Partner zusammengeschlossen. "Da lernen und sehen wir: Je regionaler und lokaler die Kompetenz des Kunden ist, umso besser lässt sich das auch digital konvertieren. Das ist für uns eine echte Herausforderung." Denn auch die dpa müsse sich fragen, was sie "an vielleicht redundanter Berichterstattung, die wir früher traditionell gemacht haben", weglassen kann. "Wir passen gerade permanent unsere Produkte an veränderte Bedingungen an. Das sehen Sie am augenfälligsten an den Tageszeitungslayouts in diesen T-Shirt-Formaten - da gibt es eine große Geschichte, da ist weniger Platz für klassische Meldungsspalten und dpa", so Gösmann. Und natürlich gebe es "Bereiche, die wir nicht erfüllen können. Das Lokale ist so ein Teil." Von Presseförderung, die auch journalistische Inhalte umfasst, hält der dpa-Chefredakteur allerdings nichts. Für ihn ist das entscheidende Erfolgskriterium die Nutzung: "Ist jemand bereit, für deine Leistung zu zahlen?", lautet Gösmanns Credo. "Da bin ich sehr altmodisch, aber ich will mich nicht fördern lassen von irgendeiner Stiftung. Denn da gibt es zwar Geld, aber immer auch versuchte Einflussnahme dazu." Macht sich der dpa-Chefredakteur Sven Gösmann eigentlich Sorgen wegen der Vorstellungen mancher populistischen Parteien, allen voran der AfD, zum Umbau des deutschen Mediensystems? Zu den dpa-Gesellschaftern gehören auch die Öffentlich-Rechtlichen, denen die AfD den Kampf angesagt hat. "Wenn es eine grundlegende Veränderung der Gesellschaft und der Medienlandschaft gibt, dann haben wir natürlich auch ein Thema", sagt Gösmann: "Aber ich glaube, da sind wir noch ein ganzes Stück von entfernt. Insofern sehen Sie mich da aufmerksam, aber nicht besorgt." Was ihn eher umtreibt, ist die Frage, wie die dpa mit der dynamischen Entwicklung der Medienlandschaft Schritt halten und ihr idealerweise sogar eine Nasenlänge voraus sein kann. Wir sind jetzt auch über 50, wir beide, sagt Gösmann beim Abschied zum Besucher und verweist durch die Glaswand des Besprechungsraum auf den Bereich des Newsrooms, wo das Social Media Team sitzt. Der Nachrichtenkonsum der Kolleginnen sei ja ein ganz anderer als der unsere, meint Gösmann und schiebt ironisch hinterher, er sei sich auch gar nicht sicher, ob die noch wüssten, dass es die "Süddeutsche Zeitung" auch auf Papier gebe.