Mehr Österreich wagen - ORF liefert ARD und ZDF publizistischen Wettbewerb beim Nachrichtenmagazin

Von Christian Bartels (KNA)

FERNSEHEN - Das beste Nachrichtenmagazin im deutschen Fernsehen läuft bei 3sat und kommt aus Österreich. "Tagesthemen" und "heute journal" könnten sich beim ORF und seiner "ZiB2" in vielerlei Hinsicht eine Scheibe abschneiden.

| KNA Mediendienst

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"ZiB2" mit Moderator Armin Wolf

Foto: Thomas Ramstorfer/ORF/KNA

Berlin (KNA) Die wichtigste Zeit für Fernsehnachrichten liegt zwischen 20.00 und 20.15 Uhr, wenn in Deutschland seit jeher überall das Hauptabendprogramm beginnt? Kann man vielleicht so sehen. Spannender ist es aber knapp zwei Stunden später, wenn um 22.00 Uhr herum die öffentlich-rechtlichen Nachrichtenmagazine senden. Wer "heute-journal" oder "Tagesthemen" moderiert, kann fast alles werden. Intendant wie Peter Voß und Tom Buhrow - oder Helge Fuhst, der neulich bei der Wahl im WDR verblüffend weit kam und ja erst 40 ist). Vielleicht aber auch "Spiegel"-Chefredakteur, wie es Claus Kleber 2007 mal angeboten wurde - der aber damals lieber das Angebot seines ZDF annahm, für sehr viel mehr Geld weiter das "heute-journal" zu moderieren. Oder Regierungssprecher wie Steffen Seibert, der 2010 das ZDF Richtung Bundesregierung verließ. Jedenfalls ist nicht übertrieben, die Mischung aus oft live geführten Interviews, Schaltgesprächen mit Korrespondenten an unterschiedlichen Brennpunkten und Filmberichten als hohe Schule des Fernseh-Nachrichtenjournalismus zu bezeichnen. Im Regelfall folgen aufs "heute-journal" von 21.45 bis 22.15 Uhr unmittelbar die "Tagesthemen", die fünf Minuten länger dauern, seitdem die ARD aus Regionalitätsgründen ihre "mittendrin"-Rubrik einführte. Wer die naheliegende Chance nutzt, über eine Stunde lang aktuellen öffentlich-rechtlichen Nachrichtenjournalismus zu verfolgen, sieht freilich oft, dass bei ARD und ZDF dieselben Themen aus ziemlich ähnlichen Perspektiven beleuchtet werden. Den publizistischen Wettbewerb, von dem die Sender gerne sprechen, wenn in Rundfunkbeitrags-Debatten gefragt wird, warum sich Deutschland zwei öffentlich-rechtliche Hauptsender mit angeschlossenen Programmfamilien leistet, machen sich ARD und ZDF in Sachen Nachrichten kaum. Dabei würde er doch hier am allerbesten sichtbar. Gut, vielleicht geschieht es nicht mehr so oft wie noch vor ein paar Jahren noch, dass dieselben Spitzenpolitiker erst in die eine, dann die andere Sendung zugeschaltet waren und dort dann eher selber für leichte Variationen ihrer Aussagen auf sehr ähnliche Fragen sorgten. Doch das Fazit bleibt: am selben Abend "heute-journal" und "Tagesthemen" anzusehen, besitzt so gut wie nie wirklich Mehrwert. Einen Ausweg gibt es doch - zwischendurch zu 3sat umzuschalten. Der deutsch-österreichisch-schweizerische Kanal, nominell Kultursender, zeigt ab 22.00 Uhr die "ZiB2" vom Österreichischen Rundfunk (ORF). "ZiB" steht für "Zeit im Bild", die erste Ausgabe läuft jeden Tag um 19.30 Uhr auf ORF 1 und ORF 2, es sei denn Sportevents schieben sich dazwischen. Um 22.00 Uhr folgt dann "ZiB2" auf ORF 2, und setzt oft andere Akzente als die bundesrepublikanische Berichterstattung. Neulich etwa, als US-Präsident Joe Biden seine Kandidatur für die Präsidentschaftswahl zurückzog und seine Vizepräsidentin Kamala Harris als Ersatz vorschlug. Im "heute-journal" hatte der stets kraftvolle Moderator Christian Sievers als Experten den bei ZDF wie ARD gern gefragten (und mit seinem "th"-namen immer leicht anders ausgesprochenen) Jeff Rathke von der Johns Hopkins University zugeschaltet. Auch Rathke schien sich ein wenig über Sievers' wenig durchdachte Suggestivfragen zu wundern. "Harris' Performance als Vizepräsidentin war suboptimal, um es vorsichtig zu sagen", flocht der Fragesteller ein, und dass Biden als Präsident nun eine "kompletter 'lame duck'" sei. Müssten Moderatoren, die sonst selten solche Urteile fällen, das nicht wenigstens begründen, oder hätte Rathke das tun sollen? Wer zu "ZiB2" weiterschaltete, wurde deutlich besser informiert. In die österreichische Sendung war die Kalifornien-Korrespondentin der schweizerischen "Neuen Zürcher Zeitung" zugeschaltet, die Deutsche Marie-Astrid Langer. Dort erfuhr man konkret, dass Harris sich am Anfang ihrer Vizepräsidentschaft bei wenigen Fernsehinterviews "in das eine oder andere Fettnäpfchen gesetzt" und sich danach "bewusst mehr im Hintergrund gehalten" habe, was ohnehin zum Aufgabenprofil von Vizepräsidenten gehört. Mit der Langer-Aussage, dass Harris schon häufig unterschätzt wurde, und der offenen Frage von Moderator Armin Wolf, ob die USA bereit für eine Frau, genauer für eine nicht-weiße Frau im Weißen Haus seien, war man als Zuschauer bestmöglich informiert. Zumal ja die allermeisten Europäer, so sehr sie sich auch betroffen fühlen mögen oder engagieren möchten, weder jetzt noch im November bei den US-amerikanischen Wahlen mitentscheiden können. Tags drauf sorgten in den (sogenannten) sozialen Medien Deutschlands die #RKI-Files für Wirbel, also nach allerhand Streit nun ungeschwärzt veröffentlichte Akten des Robert-Koch-Instituts (RKI) aus den Corona-Jahren 2020/21. Das ist eher vermintes Gelände als bloß ein schwieriges Thema. Seit Jahren gibt es wüste Beschimpfungen sowohl der Corona-Skeptiker und -Leugner gegen das RKI und gewesene wie amtierende Gesundheitsminister. Als auch Polemik von der Gegenseite gegen die "Schwurbler", wie Corona-Leugner gerne nicht-justiziabel genannt werden. Ist die lange verschleppte Veröffentlichung der Akten die Aufregung wert? War die 2021 vom damaligen Gesundheitsminister Jens Spahn (CDU) verwendete Formulierung von der "Pandemie der Ungeimpften" so falsch, wie seine Gegner heute behaupten? Genau da wäre Einordnung gut, die inzwischen oft als wichtigste Aufgabe des Journalismus bezeichnet wird. Gerade jetzt, wo das bloße Vermelden von Nachrichten und vermeintlichen Nachrichten ja immerzu und überall geschieht. Das, was gerne als "Verschwörungserzählungen" bezeichnet wird, sieht sich ja nicht zuletzt durch das Nicht-Behandeln dieser Themen in den klassischen Leitmedien befeuert. Doch an diesem Abend machten "heute-journal" und "Tagesthemen" einen Bogen ums schwierige Thema, um stattdessen unisono über die Pläne von Bundesregierung und CDU-Opposition berichtet, durch eine Grundgesetzänderung die Unabhängigkeit des Bundesverfassungsgerichts zu sichern. Wo die Berliner "RKI-Files" ausführlich Thema waren, sogar des täglichen Studiointerviews: bei "ZiB2". Armin Wolf befragte den ehemaligen österreichischen Gesundheitsminister Rudolf Anschober von den Grünen. Das war nicht unbedingt eine Sternstunde, aber erhellend. Dass der behauptete große Skandal eher nicht in den "Files" steckt, dass Corona zwar keine "Pandemie der Ungeimpften" war, der Nutzen der Impfungen aber weiter klar auf der Hand liegt, wurde deutlich. Genau so, dass es sinnvoll wäre, aus Fehlern bei der bislang letzten Pandemie für eine sicher kommende nächste Lehren zu ziehen - was leider in Deutschland wie in Österreich zu wenig geschieht. Deutlich wurde außerdem, dass die "RKI-Files" wohl nur deshalb Hauptthema der Sendung wurden, weil angefragte Interviewgäste zu einem anderen Thema abgesagt hatten. Wer angefragt wurde und absagte, wird in der "ZiB2" gerne erwähnt. Auch das dürfte dazu beitragen, dass es nicht viele Absagen gibt. Zumal es Prestige bedeutet, in den "ZiB2"-Interviews zu bestehen. Sie sind länger als die manchmal beinahe gescripted wirkenden Kurzinterviews im "heute-journal" und den "Tagesthemen". Sie verlaufen formal österreichisch-höflich, aber in der Sache oftmals knallhart. Sozusagen hart, aber fair. So zeigt "ZiB2" oft, dass Härte in der Sache beiden Seiten gut anstehen - und vor allem zur Meinungsbildung des Publikums beitragen kann. Natürlich geht es viel öfter als um deutsche Politik um spezifisch österreichische Themen. Aber auch das lohnt sich aus Deutschland nicht selten anzusehen. Schon weil es in Österreich schon gab und weiter gibt, was in der Bundesrepublik Deutschland womöglich erst noch bevorsteht. Die rechtspopulistische FPÖ hat bereits regiert und könnte es nach der nächsten Wahl wieder tun. Derzeit regiert auf Wiener Bundesebene eine schwarz-grüne Koalition. Vor der Europawahl wurden in "ZiB2" sukzessive die österreichischen Spitzenkandidaten aller Parteien im Studio befragt. Das zeigte instruktiv, wie EU-Europa funktioniert. In Deutschland dagegen erregte gerade ein "Brandbrief" Nischen-Aufsehen, in dem sich Europaparlamentarier aus SPD, CDU/CSU und FDP beschwerten, zu selten in die einschlägigen bundesrepublikanischen Polit-Talkshows eingeladen zu werden. Klar, Nachrichtenmagazine sind Langstrecke, deren Entwicklung über Jahre oder eher noch Jahrzehnte verläuft. Einzelne Sendungen können da nur Mosaiksteinchen sein. An jedem Abend kann tendenziell immer noch schwerer vorhersehbare Aktualität der Planung in die Quere (oder zupass) kommen. Genau das macht sie zur spannendsten Form im linearen Fernsehen. Christian Sievers ist oft auch in besserer Form als bei seinem bislang jüngsten Jeff-Rathke-Interview. Und dass dieselben Experten am selben Abend bei ZDF und ORF interviewt werden, wie in dieser Woche einmal der (deutsche) Nahost-Experte Daniel Gerlach, kommt auch vor. Ob Dunya Hayali und Marie-Claire Zimmermann ihre Interviews besser führten - unklar oder egal. Sie ließen sich gut komplementär sehen. Insofern: Den publizistischen Wettbewerb, den ARD und ZDF sich mit ihren Nachrichtensendungen nicht im geringsten bieten, liefert ihnen im deutschen Fernsehen immerhin der ORF auf 3sat. Und Gründe für die natürlich rein subjektive Ansicht, dass die beste deutschsprachige öffentlich-rechtliche Nachrichtensendung aus Österreich kommt, liefert er mit seiner "ZiB2" auch immer wieder.

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