Berlin (KNA) Berichte über netzpolitik.org in der deutschen Medienlandschaft sind oft von großer Hilflosigkeit geprägt. Viele Kolleginnen und Kollegen scheinen nicht so recht greifen zu können, wer oder was dieses Team ist, das Deutschland nun schon so lange das Internet erklärt. Blog, Plattform, Portal, Medium: Die Bandbreite an Bezeichnungen für netzpolitik.org ist groß, und nur die Hälfte klingt so, als würde die Redaktion mit Geistern sprechen. Das "Medium für digitale Freiheitsrechte", so die favorisierte Eigenbezeichnung, hat tatsächlich einen ungewöhnlichen Weg genommen. Fast auf den Tag genau vor 20 Jahren, am 10. August 2004, ging um 13.12 Uhr der allererste Beitrag auf netzpolitik.org online: "FSFE & LinuxTag e.V.: Softwareentwicklung durch Patente bedroht". Verfasst hat diesen kurzen Beitrag Markus Beckedahl, hauptberuflich Netz-Nerd der Nation, der netzpolitik.org 2004 als Ein-Mann-Blog gegründet hatte. Seitdem hat das Medium einen langen und mitunter turbulenten Weg genommen. Bald bloggte Beckedahl nicht mehr alleine, sondern weitere Personen aus dem netzpolitischen Umfeld konnten ihren Senf dazugeben und ließen den Blog zu einer einflussreichen Anlaufstelle der Netzszene werden. So war die Webseite 2009 maßgeblich beteiligt, das Internet-Meme "Zensursula" bekannt zu machen, das sich satirisch mit den Vorschlägen der damaligen Familienministerin Ursula von der Leyen zu Netzsperren befasste und der CDU-Frau auch 15 Jahre später noch nachhängt. "Zensursula" zeigt, wo netzpolitik.org herkommt. Die Seite war lange Zeit ganz selbstverständlich Teil des Netzaktivismus. Das mit dem Journalismus sei gar nicht so geplant gewesen, berichtet Co-Chefredakteurin Anna Biselli im Gespräch mit dem KNA-Mediendienst: "Der Weg zum journalistischen Medium hat sich organisch entwickelt. Vor zehn Jahren hat sich langsam gezeigt, dass man so etwas über Spenden von Leser:innen finanzieren kann." Der Übergang zum journalistischen Arbeiten sei dann erfolgt, weil man festgestellt habe, dass Journalismus ja nicht dadurch definiert sei, dass ein riesiger Verlag dahinter stehe, sondern dadurch, dass Journalist:innen Menschen seien, die sich an journalistische Standards halten. Die sieht Biselli auch eingehalten, wenn ein Medium offen damit umgehe, nicht neutral zu sein: "In dem Moment, wo ich auswähle, welche Nachricht ich bringe, bin ich schon nicht mehr neutral. Wir berichten aus Perspektive der grundrechtlichen Implikation von Dingen. Das ist keine neutrale Perspektive." Die Leitplanken für die Redaktion seien die journalistischen Standards, an die man sich immer halte: "Es geht darum, Informationen nicht zu verzerren und den Leuten keine Informationen vorzuenthalten." Das Bedürfnis nach Professionalisierung der redaktionellen Arbeit sei dabei immer vom Team ausgegangen, berichtet Biselli: "Es kam nie jemand von oben und hat gesagt, wir müssen jetzt hier folgenden Prozess einführen. Es war immer eine Initiative von innen heraus, die sich beispielsweise um einen strukturierten Redigierprozess bemüht hat oder um regelmäßige Redaktionsmeetings." Biselli hatte die Chefredaktion im Frühjahr 2022 von Gründer Markus Beckedahl übernommen, der sein Baby dann im März 2024 ganz verlassen hatte - nicht ganz ohne Trennungsschmerz, dafür aber mit umso mehr Kampfgeist für ein besseres Internet, wie Beckedahls Abschiedsartikel in "seinem" Blog zeigt: "Eine bessere digitale Welt ist immer noch möglich. Wir müssen dafür kämpfen." Die Geschichte von netzpolitik.org ist eng mit seinem Gründer verknüpft. Er prägte das Medium und entwickelte sich in den 20 Jahren seit der Gründung selbst vom Technikfreak und Aktivisten zu einem der profiliertesten politischen Journalisten im Bereich Digitalisierung. Beckedahl war es dann auch, der gemeinsam mit Redakteur Andre Meister unfreiwillig für den größten Boost in der Geschichte von netzpolitik.org sorgte. 2015 trudelte ein Schreiben des Generalbundesanwalts bei den beiden Journalisten ein. Darin wurden Beckedahl und Meister informiert, dass gegen sie wegen Landesverrats ermittelt werde. Der Verfassungsschutz unter seinem damaligen Präsidenten Hans-Georg Maaßen hatte Meister und Beckedahl angezeigt, weil sie als geheim eingestufte Dokumente veröffentlicht hatten, die den Ausbau der Internetüberwachung durch den Geheimdienst aufzeigten. Ein Vorgang, den netzpolitik.org bis heute auf der Webseite selbstironisch unter "Auszeichnungen und Preise" aufführt. Während das Verfahren nach wenigen Tagen eingestellt wurde und den Generalbundesanwalt seinen Job kostete, rollte angesichts dieses Angriffs auf die Pressefreiheit eine Welle der Solidarität durchs Land. Alle großen Medien berichteten, Menschen zeigten ihren Rückhalt auf Demonstrationen - und die IBAN des schon damals spendenfinanzierten Mediums trendete tagelang als Hashtag auf Twitter. "Auch wenn es ironisch klingt: Die Landesverratsgeschichte hat uns sehr geholfen", sagt Biselli. "Das war der Moment, wo zum einen die Anerkennung dessen, was wir tun, nicht mehr strittig war, weil sich auch sehr viele klassische Medien solidarisiert haben und uns als Journalisten bezeichnet haben." Zum anderen seien damals auch viele Menschen außerhalb der Netzpolitik-Blase auf das Medium aufmerksam geworden: "Uns haben dann mehr Menschen wahrgenommen und auch mehr gespendet. Das hat Wachstum ermöglicht, sodass man eine Redaktion auf die Beine stellen konnte, die nicht mehr nur aus zwei, drei Leuten besteht, die vor sich hinwurschteln", erzählt Biselli. Der Fall zeigt viel über die Arbeit von netzpolitik.org. Das Medium lebt eine Vorstellung des Internets, wie es war, bevor es sich vornehmlich US-amerikanische Konzerne weitestgehend unter den Nagel gerissen haben. Die Redaktion punktet mit exklusiven Veröffentlichungen und tut immer wieder aufsehenerregende Leaks auf. Doch anstatt auf diesen Dokumenten zu sitzen und sie ausschließlich selbst zu verwerten, veröffentlichen die Journalistinnen und Journalisten im Regelfall alles, was sie haben, damit auch andere davon profitieren können. Der im Journalismus so geläufige Ausdruck "Dokument XY liegt der Redaktion vor" ist bei netzpolitik.org verpönt. Allgemein hat die Redaktion aus Sicht derer, die in ihrer journalistischen Laufbahn Kurse oder Weiterbildungen zu Online-Journalismus erdulden mussten, eine ungewöhnliche Herangehensweise. Keine Werbung, keine Paywall, keine reißerischen Überschriften, kein Tracking von Nutzerdaten, lange Texte zu Themen für überschaubare Zielgruppen, eine Flut an Links, die Leserinnen und Leser von der Seite wegführen, wenig bis keine Aktivität in den sozialen Medien, offene Lizenzen, die unter bestimmten Bedingungen den Nachdruck der Inhalte erlauben. Eigentlich macht netzpolitik.org alles falsch, was man falsch machen kann. Wie kann so ein Modell funktionieren? "Ich glaube, man kann nicht sagen, dass es genauso wieder funktionieren würde, wenn das jetzt jemand nachmachen würde", überlegt Biselli. "Wir haben historisches Glück. In der Zeit, in der netzpolitik.org entstanden ist, gab es viel Unterstützung aus der Digitalcommunity heraus und die unterstützt uns immer noch." Daniel Leisegang, seit Sommer 2022 Bisellis Kollege in der Chefredaktion, ergänzt: "So zu arbeiten, ist ein riesen Privileg. Wir sind nicht daran gebunden, unsere Teaser, unsere Überschriften, unsere Themenauswahl danach auszurichten, möglichst viele Digitalabos zu verkaufen. Die Texte, die in anderen Redaktionen die meisten Abos erwirtschaften, sind meistens nicht klüger als andere, im Gegenteil." Im Durchschnitt spenden die Menschen 8 Euro pro Person und Monat an netzpolitik.org. Bei einer Spendensumme von über einer Million Euro jährlich zeigt das, wie groß die Community ist, die mit kleinen Beträgen das Angebot am Laufen hält. Das erlaube es der Redaktion, Lücken zu füllen, die die Digitalberichterstattung anderer Medien offen lassen. Zwar habe die Presselandschaft hier seit dem Start von netzpolitik.org vor zwanzig Jahren deutlich nachgelegt, sagt Biselli: "Wir müssen nicht zu allem was sagen, weil oft schon jemand anderes was Gutes dazu gesagt hat." Doch immer wieder gebe es Themen oder Perspektiven im Bereich der Digitalisierung, wo die Redaktion eine Lücke ausmache, die man dann füllen könne. Dabei sei man in der Berichterstattung aber deutlich barrierefreier geworden, ergänzt Leisegang: "Wir achten mehr auf sprachliche Zugänglichkeit. Wir wollen auch Leute abholen, die das Thema vielleicht zum ersten Mal entdecken. In der Redaktion arbeiten vor allem Themen-Nerds, da vergisst man manchmal, dass die Leute da draußen von dem Thema bisher noch gar nicht gehört haben." Hier gehe es dann darum, auch technisch schwierige Themen zugänglich zu machen und sie so aufzubereiten, dass die Menschen verstehen, wo bei einem Gesetz oder einer Technik das Problem liege. Eine Entwicklung, die Leisegang auch in den kommenden Jahren vorantreiben will: "Ich würde mir sehr wünschen, dass wir noch mehr jüngere Menschen erreichen, die das Thema Digitalisierung ganz anders erfahren haben als die, die es seit 20 Jahren mit begleiten." Auf die Frage, welche Themen netzpolitik.org in den nächsten fünf Jahren wohl am meisten begleiten werden, antwortet Biselli so souverän wie aus der Pistole geschossen mit "leider KI". Und bei der Künstlichen Intelligenz, aber auch bei der Digitalisierung allgemein, werde es in den nächsten Jahren vor allem auf die Verteilung von Ressourcen und Kapital ankommen: "Auf das Thema KI wird gerade mehr Geld geworfen als auf die Mondlandung oder sonstige Großprojekte der Vergangenheit. Das hat Folgen", sagt Biselli und ergänzt: "Wir haben als Gesellschaft vergessen, dass wir uns Gedanken darüber machen können, wie wir so etwas wie KI nutzen wollen, damit es den Menschen und der Gesellschaft dient. Im Augenblick ist das etwas, das von außen auf einen drauf rollt. Wir können das aber selbst gestalten." Große Aufgaben für ein immer noch kleines Medium, das sich in seiner zwanzigjährigen Historie zu einer echten Erfolgsgeschichte gemausert hat. Damit das noch mehr Menschen mitbekommen, hat Biselli ein weiteres 5-Jahres-Ziel: "Wenn man bei Google nach netzpolitik.org sucht, ist einer der vorgeschlagenen Suchbegriffe 'seriös'. Als ich Chefredakteurin geworden bin, habe ich mir vorgenommen, dass dieser Begriff innerhalb der nächsten fünf Jahre verschwindet, weil eine breite Masse von Menschen uns kennt und weiß, dass wir ernstzunehmen sind." Es wäre ein angemessenes Geschenk zum 25. Geburtstag 2029.