Hamburg (KNA) Die Realität ist relativ geworden. Gerade am Bildschirm ist sie nur noch eine Frage der digitalen Technik, seit Film und Fernsehen nahezu jede Wirklichkeit am Greenscreen kreieren oder gleich ganz der KI überlassen kann. Wenn Computer also schon leibhaftige Menschen mit einem Mausklick in täuschend echte Fabelwesen absurder Fantasiewelten verwandeln - was könnte die Realität da noch bizarrer relativieren? Die Antwort ist seit Walt Disneys Frühwerk leicht, lautet heutzutage aber ein bisschen anders: Adult Animation. So nennen sich Zeichentrickfilme für Erwachsene, die zwar durchaus jugendfrei sind, aber durchweg durchgeknallt und für Kinder damit unzugänglich. Bestes Beispiel: "Rick and Morty". Vor elf Jahren von Justin Roiland und Dan Harmon für den Warner-Kanal Adult Swim erschaffen, ist die Handlung mit verwirrt noch zurückhaltend beschrieben. Der exzentrische Wissenschaftler Rick und sein Enkel Morty reisen darin mithilfe genialer Erfindungen durch Raum und Zeit, wo sogar noch mehr möglich ist als dank CGI oder SFX im Realfilm. Der Humor ist brachial, das Tempo hoch, die Logik Nebensache, sobald beide im Kreis ebenso irrer Figuren in bislang sieben Staffeln 71 Abenteuer der aberwitzigen Art erleben. Und jetzt setzt Warner TV Comedy sogar noch einen drauf. Denn die achte Staffel wurde dort animiert, wo der Wahnsinn bekanntlich schon lange ein eigensinniges Zuhause hat: in Japan. Takashi Sano, Schöpfer der Anime-Serie "Tower of God" unterzieht "Rick and Morty" für zehnmal 30 Minuten einer fernöstlichen Frischzellenkur im Stile der Manga-Kultur. Mortys Familie um den erfolglosen Werber Jerry und die Pferde-Chirurgin Beth sind also ebenso wie ihre Episodencharaktere ein bisschen kindlicher gezeichnet, kriegen es aber natürlich mit Riesenechsen in epileptischer Farbenpracht zu tun. Alles ganz schön verrückt, alles allerdings fast schon normal im rasant wachsenden Angebot erwachsener Comicserien, das Streamingdienste von Sky über Comedy Central bis Netflix bereitstellen. Wer also denkt, die "Simpsons" oder ihr SciFi-Ableger "Futurama" sind surreal, aufgepasst: Verglichen mit Seth MacFarlanes Kleinstadtgrotesken wie "Family Guy" wirken Matt Groenings gelbe Vierfinger-Geschöpfe geradezu dokumentarisch. Hierzulande erstmals 2002 bei ProSieben ausgestrahlt, sind die klügsten Köpfe der Unterschichtenfamilie Griffin nämlich das intellektuelle Baby Stewie (gesprochen vom Showrunner persönlich) und sein redseliger Hund Brian, der Jazz hört und Toyota fährt. Schon die Brüder Grimm hatten zwar ein Faible für anthropomorphe Tiere. Man nennt es auch Fabel. Wenn das depressive Pferd "BoJack Horseman" bei Netflix in der 6. Staffel seit 2014 seiner Karriere als Sitcom-Star hinterhertrauert oder ein Blauhäher namens Mordecai in der Warner-Serie "Regular Show" gemeinsam mit Waschbär Rigby den Park des sprechenden Kaugummiautomaten Benson betreut, wird aus fabelhaft fast schon bescheuert. Seit der begnadete Grafiker Ralph Bakshi Robert Crumbs moralisch verwahrloste Comic-Katze "Fritz the Cat" vor mehr als 50 Jahren auf die Leinwand holte und damit das Genre vermeintlich jugendgefährdender Zeichentrickfilme erfand, kennt es also keine Tabus mehr und noch weniger Regeln. Im Netflix-Anime "Big Mouth" zum Beispiel arbeiten Andrew Goldberg und Nick Kroll die Schrecken ihrer eigenen Pubertät in Gestalt eines Hormonmonsters auf, das amerikanische Teenager mit ziemlich expliziten Bildern um den Verstand bringt. Und so geht es weiter: Comedy Central integriert außer-, unter- und überirdische Fantasiewesen namens "Ugly Americans" in die New Yorker Zivilgesellschaft. Parallel plündert der drogensüchtige Polizeihund im US-Revier "Paradise PD" ständig die Asservaten-Kammer. Weiter nördlich persiflieren fünf "Trailer Park Boys" kanadische Hinterwäldler in nervöser Stroboskop-Grafik. Mit "Inside Job" betreibt Netflix eine Agentur zur Geheimhaltung großer Verschwörungstheorien von Reptiloiden bis Chemtrails. Und ganz neu im Angebot elaborierten Irrsinns für Volljährige: Blasphemie. Seit Juni schickt Gottes eigener Aufsichtsrat seinen Chef in der Netflix-Serie "Exploding Kittens" als Katzenbaby zur Erde, um hier das letzte Gefecht mit Satan auszutragen. Wie so oft im Genre wohnt er dabei übrigens zunächst bei einer dysfunktionalen Familie. Nicht die einzige Gemeinsamkeit bizarrer Zeichentrickserien. Was viele darüber hinaus noch verbindet, ist abgesehen von einer schlichten, fast dadaistischen Grafik, die häufig nur Lippen bewegt und auf korrekte Perspektiven pfeift, ihre Herkunft. Obwohl sich die ARD-Sitcom "Friedefeld" Mitte März recht solide an einer deutschen Mischung aus "Bob's Burger" und "American Dad" versuchte, ist das Genre meist englischsprachig. Hochgeschwindigkeitspointen ohne tieferen Sinn, aber vergleichsweise kostengünstig produzierbar: Wenn Pickel auf Pubertierende einreden und Goldfische Goldfischhalter bestehlen, wenn außerirdische Stewardessen Tipps zum Waffenschmuggel ins Flugzeug geben und extraterrestrische Grillen die Erde angreifen, wenn gezeichneter Wahnsinn den Möglichkeiten computeranimierter Realfilme pulverisiert - dann befinden wir uns also im Erfolgsformat des fiktionalen Entertainments mit dem besten Preis-Leistungs-Verhältnis: Adult Anime.