München (KNA) Grundsätzlich sind Gerichtsverhandlungen in Deutschland öffentlich. Öffentlichkeit soll Transparenz herstellen und das Vertrauen in die Rechtsprechung stärken. Beides nennen Richterinnen und Richter als Grundlage und Ziel von Reformen im Justizsystem. Doch immer mehr Gerichtsverhandlungen finden teilweise digital statt. Mindestens die Richterinnen und Richter sind bislang noch vor Ort im Gerichtsgebäude. Ein neues Gesetz sieht nun auch vollvirtuelle Verhandlungen vor. Ist das der Beginn einer neuen Entwicklung? Und was bedeutet das für die Öffentlichkeit? Im Juli trat das neue Gesetz in Kraft. Der Entwurf des Bundes war den Ländern zu weit gegangen und mehrfach nachverhandelt worden. Ein Kompromiss sieht nun vor, dass Länder vollvirtuelle Verhandlungen testweise für einzelne Gerichte und Verfahren zulassen können. Über die Durchführung entscheide dann der vorsitzende Richter. Zur Öffentlichkeit heißt es im Gesetz: "In öffentlichen Verhandlungen ist die Öffentlichkeit herzustellen, indem die vollvirtuelle Videoverhandlung in Bild und Ton an einen öffentlich zugänglichen Raum im zuständigen Gericht übertragen wird." Laut Bundesjustizministerium erfolgen Videovernehmungen von Zeugen und Sachverständigen im Rahmen der virtuellen Verhandlungen in Echtzeit. Aufzeichnungen sind Beteiligten und Zuschauern untersagt - außer zu Protokollzwecken des Gerichts. Lässt das Verbot sich mit der gesetzlichen Verordnung so einfach durchsetzen? Im Entwurf war noch ein Verbot elektronischer Geräte vorgesehen. Doch ohne Laptop oder Smartphone können Journalistinnen und Journalisten heutzutage kaum berichten. Hendrik Zörner, Pressesprecher des Deutschen Journalisten-Verbandes (DJV), sagt auf Anfrage des KNA-Mediendienstes: "Mit der Möglichkeit der digitalen Führung von Gerichtsverhandlungen reagiert der Gesetzgeber auf die technologische Entwicklung, die längst alle Bereiche der Gesellschaft erfasst hat. Allerdings wurden die Gerichtsberichterstatter offenbar vergessen, denn für sie gilt nach wie vor die Verpflichtung, Beschuldigte wie auch Zeugen in ihrer Berichterstattung dahingehend zu schützen, dass keine Vorverurteilung durch die Medien erfolgt." Journalistinnen und Journalisten müssten weiter die Möglichkeit haben, vor Verhandlungsbeginn und in den Sitzungspausen mit den Prozessbeteiligten reden zu können. "Wie das bei einer rein digitalen Verhandlungsführung möglich sein soll, ist uns ein Rätsel." Bisher seien noch keine Mitglieder mit diesem Thema auf den DJV zugekommen. Auch die Bundesrechtsanwaltskammer, die eigenen Angaben zufolge sämtliche Anwälte und Anwältinnen in Deutschland vertritt, war hinsichtlich eines Verbots technischer Geräte skeptisch. Wie soll ein solches Verbot in der Praxis aussehen? Sollen Zuschauern und Berichterstattern die Smartphones abgenommen werden? Müssten eigene Schließfächer dafür gebaut und Zuschauer kontrolliert werden? In einer Stellungnahme vom Januar 2023 hielt die Anwaltskammer so ein Vorgehen für nicht wünschenswert und praxisfern. Sie betont außerdem: "Das Prinzip der Öffentlichkeit ist für die rechtsstaatliche Justizgewährung fundamental. Ein Ausschluss der Öffentlichkeit würde das unerlässliche Vertrauen in die Rechtspflege gefährden. Die Gewährleistung der Öffentlichkeit durch moderne Technik hat stets Vorrang vor einer Beschränkung der Öffentlichkeit." Im Gerichtsverfassungsgesetz (GVG) heißt es in Paragraf 169 zum Thema Öffentlichkeit allgemein: "Die Verhandlung vor dem erkennenden Gericht einschließlich der Verkündung der Urteile und Beschlüsse ist öffentlich." Dann folgt allerdings eine Einschränkung: "Ton- und Fernseh-Rundfunkaufnahmen sowie Ton- und Filmaufnahmen zum Zwecke der öffentlichen Vorführung oder Veröffentlichung ihres Inhalts sind unzulässig." Möglich wiederum ist aber "die Tonübertragung in einen Arbeitsraum für Personen, die für Presse, Hörfunk, Fernsehen oder für andere Medien berichten." Allerdings könne die Tonübertragung "zur Wahrung schutzwürdiger Interessen der Beteiligten oder Dritter oder zur Wahrung eines ordnungsgemäßen Ablaufs des Verfahrens" teilweise untersagt werden. Zusätzlich gibt es Einschränkungen und Sonderregelungen, so sind etwa Ton- und Bildaufnahmen für wissenschaftliche und historische Zwecke möglich. Das Thema Öffentlichkeit bei vollvirtuellen Verhandlungen wird innerhalb der Anwaltskammer unterschiedlich gesehen. Zum Teil werde die Einrichtung von Medienräumen im Gericht befürwortet. Einem anderen Teil erscheine fragwürdig, ob Übertragungen von der Öffentlichkeit überhaupt wahrgenommen würden. "Es geht bei der Öffentlichkeit außerdem nicht nur darum, dass die Öffentlichkeit das Geschehen verfolgen können soll, sondern auch darum, dass vor der Öffentlichkeit verhandelt wird", so die Kammer. Die Anordnung in den Gerichtssälen bilde die Rollen der Prozessteilnehmer sinnvollerweise ab: "Die Öffentlichkeit als Gegenüber des Gerichtes - und seien es deren leere Bänke - gehört allein in der Möglichkeit dazu." Dem Bundesjustizministerium liegen derzeit noch keine Angaben vor, welche Bundesländer vollvirtuelle Verhandlungen abhalten wollen, so ein Sprecher auf Anfrage des KNA-Mediendienstes. Erste Zahlen werde das Ministerium voraussichtlich Ende des Jahres erhalten. Dann müssen die Länder erstmals über vollvirtuelle Videoverhandlungen berichten. Auch darüber, inwiefern die Öffentlichkeit Vorführungen verfolgt. Eine Stichprobe des KNA-Mediendienstes ergibt: Das Justizministerium von Nordrhein-Westfalen hat noch nicht entschieden, ob und für welche Gerichte und Verfahren vollvirtuelle Verfahren erprobt werden. Falls ja, dann müssten Details zur Öffentlichkeit in einem speziellen Raum in einer eigenen Rechtsordnung festgelegt werden. Das bayerische Justizministerium schreibt, es "beabsichtigt nicht, von dieser Möglichkeit Gebrauch zu machen." Die Leitung einer Gerichtsverhandlung aus dem Homeoffice werde ihrer besonderen Bedeutung als Grundlage der gerichtlichen Entscheidung nicht gerecht und widerspreche der Außendarstellung der Justiz und dem Ansehen der Gerichte als Institution. "Im häuslichen Arbeitszimmer können Störungen von außen die Verhandlung beeinträchtigen." Auch andere Länder zögern. Dem Vernehmen haben sie vor Augen, dass eine Hauskatze oder ein Kleinkind bei der Vernehmung oder Urteilsverkündung durchs Bild huscht und die Würde des Gerichts stört. Dabei begrüßt der bayerische Justizminister Georg Eisenreich grundsätzlich Videoverhandlungen. Im Zivilverfahren gehören sie in Bayern längst zum Gerichtsalltag. Etwa 13.000 Videoverhandlungen und -anhörungen habe es allein 2023 im Freistaat gegeben. Alle 99 Gerichte in Bayern verfügten über eine Videokonferenzanlage. Doch dabei sitzt der Richter immer noch im Gericht. Wie sieht diese Realität heute aus? Das Amtsgericht Erding, an dem massenhaft Fluggastbeschwerden des Flughafens München auflaufen, verhandelte 2024 bisher 665 mal mit Hilfe von Videotechnik. Stets im Sitzungssaal, also öffentlich. Am Gerichtsstandort Nürnberg haben im Jahr 2023 insgesamt 841 Videoverhandlungen stattgefunden, davon 647 am Landgericht Nürnberg-Fürth, 105 am Oberlandesgericht Nürnberg und 89 am Amtsgericht Nürnberg, wie Tina Haase, Richterin am OLG Nürnberg, aufzählt. Bei Zivilgerichten sei es bereits gängige Praxis, dass bei Verhandlungen nur der Einzelrichter oder die Richter-Spruchgruppe im Gerichtssaal säßen und über Medientechnik die Parteien und Anwälte aus den Kanzleiräumen "vollvirtuell" zugeschaltet seien, sagt Haase. Sie loggten sich hierfür in den digitalen "Raum" ein. Die Zivil-Richter seien also auch bei einer solchen Videoverhandlung im Gerichtsgebäude, in einem Sitzungssaal mit entsprechender technischer Ausstattung. In einzelnen Sälen seien teils mehrere Kameras und Monitore montiert. Vereinzelt legen Richter und Richterinnen Videoverhandlung in das eigene Bürozimmer im Gerichtsgebäude, berichtet Haase. Das sei aber eher die Ausnahme und komme auch nur in Betracht, wenn am Zivilprozess nur Anwälte beteiligt seien, sich alle Anwälte aus ihren Kanzleiräumen zuschalten würden und keine sonstigen Prozessbeteiligten zu laden seien. In einem solchen Fall werde während der Videoverhandlung ein Sitzungsaushang an der Bürotür befestigt, so dass die notwendige, gesetzlich vorgeschriebene Öffentlichkeit des Sitzungsraums gewahrt werde. "Das Büro wird auf diese Weise zum öffentlichen Sitzungssaal", sagt Tina Haase. Im Normalfall soll die Videoverhandlung also im Beisein der Richter im Gerichtssaal verfolgt werden können. Im Ausnahmefall wird das Büro zum Gerichtssaal. Wie die Länder mit dem Sonderfall der vollvirtuellen Verhandlung umgehen, bleibt abzuwarten.