Das Biest am Brett - Arte-Dokumentation über den sowjetischen Schach-Star Garri Kasparow

Von Manfred Riepe (KNA)

DOKU - Eine Dokumentation porträtiert den Schach-Rebellen Garri Kasparow, der im Kalten Krieg das Sowjetsystem matt setzte und später zum Putin-Kritiker wurde.

| KNA Mediendienst

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"Garri Kasparow - Rebell und König des Schachspiels"

Foto: H. Rumph Jr./AP/SIPA/ARTE F/KNA

Frankfurt (KNA) Im Kalten Krieg hatte Schach eine herausragende Rolle. Obwohl der Sozialismus offiziell die Monarchie - und mit ihr alle bürgerliche Herrschaft - hinter sich gelassen hatte, galt ausgerechnet die Dominanz über das "Königliche Spiel" als Ausdruck intellektueller Überlegenheit über den Kapitalismus. Mehr als nur eine Prestigefrage war es, dass der Schachweltmeister aus der UdSSR kam. Doch der amtierende Meister sollte, bitteschön, ein leise tretender, stromlinienförmiger Sowjetbürger sein. Der exzentrische, unangepasste Garri Kasparow verkörperte das genaue Gegenteil. Eine Arte-Dokumentation zeichnet nach, wie dieser intellektuelle Draufgänger dem System von innen heraus Paroli bot und später zu einem Gegner Putins wurde. Schach ist ein populäres filmisches Motiv. Zuletzt sorgte die Netflix-Serie "Das Damengambit" für Furore. Die bewegte Lebensgeschichte Garri Kasparows, die die beiden Franzosen Tancrede Bonora und Laurent Follea in ihrer vergnüglichen Dokumentation rekapitulieren, ist eigentlich spannender als jede Fiktion. Der Film erinnert daran, wie sehr die Sowjets geschockt waren, als 1972 mit Bobby Fischers Triumph über Boris Spasski erstmals ein Amerikaner den Weltmeistertitel errang. Kurios: Als Fischer drei Jahre später gegen Anatoli Karpow nicht antrat, wurde der sowjetische Herausforderer kampflos zum Weltmeister gekürt. Die alte Weltordnung war wieder hergestellt: "Halte diesen Titel fest" - mit diesen Worten gratulierte der damalige Kreml-Chef Leonid Breschnew dem amtierenden Schachweltmeister, dem in der sowjetischen Propaganda eine Schlüsselrolle zugedacht war. Doch zu dieser Zeit mauserte sich im Hintergrund bereits ein Wunderkind, das die sozialistische Schachwelt gehörig aufmischen würde. Garri kam 1963 in Baku als Sohn eines aserbaidschanischen Vaters und einer armenischen Mutter zur Welt. Schach spielte im Alltag der beiden Ingenieure zwar eine große Rolle - doch das Spiel hatten sie ihrem Sohn gar nicht beigebracht. Umso mehr waren sie erstaunt, als der Fünfjährige ihnen die Lösung eines schwierigen Schachproblems mitteilte, über dem sie erfolglos gebrütete hatten. Der Junge verfügte über phänomenales Talent. Das bestätigten auch namhafte Schachlehrer. Eine Chance würde er im antisemitischen Sowjetsystem aber nur haben, wenn er den jüdischen Namen seines Vaters ablegte. Und so wurde aus Garri Weinstein Garri Kasparow. Sein legendärer WM-Kampf in den Jahren 1984/85, den der Film differenziert nacherzählt, führt indes vor Augen, dass der junge Überflieger noch andere Hürden als den Antisemitismus überwinden musste. Die Sowjetführung unterstützte nämlich den Titelverteidiger Karpow, der schon bald in Führung lag. Eine Partie noch fehlte ihm zum Gesamtsieg. Doch in dem Maße, in dem der Herausforderer sich zurückkämpfte, schwanden in der monatelangen Hängepartie die Kräfte Karpows, der elf Kilo an Gewicht verlor und mehrfach ins Krankenhaus musste. Um den unbequemen Herausforderer um den Sieg zu bringen, brach der Präsident des Weltverbandes die Partie ab - worauf Kasparow lautstark seine Stimme erhob: "Nie zuvor", so der Off-Kommentar, "hatte ein sowjetischer Spitzensportler das System öffentlich so scharf kritisiert." Packend arbeitet der Film heraus, dass Kasparow - indem er mit dem Schachspiel das ideologische Fundament des Sozialismus für sich reklamierte - das System mit den eigenen Waffen schlug. Im Grunde, so zeigt die Dokumentation, verhielt Kasparow sich wie ein Held aus den Spielfilmen des Klassenfeindes: Gegen das korrumpierte Establishment setzte er auf die Durchhalteparole. Als das Match dann im November 1985 neu angesetzt - und Kasparow zum jüngsten Schachweltmeister aller Zeiten avancierte -, verkörperte er in den Augen der schachbegeisterten Sowjetrussen einen Rebellen, den es in dieser Welt gar nicht geben durfte. Im Gegensatz zur gültigen Doktrin verkörperte er die Botschaft des eigenwilligen Individualisten, der sich gegen die knechtende Gleichschaltung durch das System behauptete. Und so wurde Kasparow in der Presse stilisiert als "Biest am Brett", der Schachfiguren handhabt "wie ein Boxer seine Rechte". Packend ist Bonoras und Folleas Dokumentation aber vor allem deswegen, weil sie auch die Tragik dieses Stehaufmännchens hervorhebt. Denn wie kein anderer ebnete Kasparow auch dem computergestützten Schach den Weg. Mithilfe des damals aufkommenden PC hatte er hunderttausende Partien buchstäblich auf dem Schirm. Die weltweit für großes Aufsehen sorgende Niederlage gegen den IBM-Computer "Deep Blue" im Jahr 1997 - ein Wendepunkt schlechthin in der Historie des Schachspiels - war für Kasparow schließlich die am schwersten zu verkraftende Niederlage überhaupt. Der Rückzug vom Schach und das politische Engagement Kasparows, der schon früh vor den autoritären Zügen Wladimir Putins warnte, wird in den letzten Minuten leider nur stichpunktartig zusammengefasst. Nach der Organisation eines Massenprotests wird er 2007 inhaftiert und befürchtet, vergiftet zu werden. Ausgerechnet Anatoli Karpow brachte ihm etwas zu essen und "garantierte so, dass man ihn nicht vergiften würde". Kasparows Pläne, russischer Präsident zu werden und seine erzwungene Migration - all das wäre Stoff für einen eigenen Film gewesen. Trotz dieser telegrammartig verkürzten Spätphase gelingt den Autoren eine gut recherchierte, überaus sehenswerte Dokumentation, die nicht zuletzt dank einer faszinierenden Fülle von Archivmaterialien aus den 1970er und 1980er Jahren überzeugt. Hier und da werden nachinszenierte Szenen eingestreut, die den fahlen Farbstil des zeitgenössischen Filmmaterials imitieren. Glücklicherweise drängt sich dieses Reenactment nie in den Vordergrund: "Garri Kasparow - Rebell und König des Schachspiels" ist alles andere als ein "Dokudrama". Bonora und Follea gelingt ein vielschichtiger Film über einen schillernden Charakter, der sich selbst treu blieb und so den "Königen" des sozialistischen Systems Schach bot.

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