Unterföhring (KNA) Wenn eine markant tiefe Stimme derzeit im Abendprogramm von Sat.1 wieder "Bewohner!" brummt, ist klar, dass eine neue Staffel von "Promi Big Brother" an den Start gegangen ist. Die Promi-Version des Ur-Realityformats ist nur eines von vielen Beispielen dieses Genres, die in Deutschland Jahr für Jahr produziert werden. RTL holt mit einer neuen "Sommerhaus der Stars"-Staffel gute Quoten und Abrufzahlen, RTL 2 hat unlängst neue Folgen von "Love Island", diesmal in einer V.I.P.-Version, angekündigt, bei RTL+ verteilt eine "Bachelorette" Rosen - und das ist nur eine Auswahl. "Reality-TV war das Überlebensrezept für ein totgesagtes Medium. Durch Trash-TV hat es das Medium geschafft, Menschen wieder vor den Fernseher zu holen - im Wesentlichen hat das über den voyeuristischen Effekt funktioniert, aber in gewisser Weise auch, weil diese Formate viel Identifikationsfläche bieten", sagt Claudia Paganini, die seit Jahren zu diesem Thema forscht. Die 46 Jahre alte Theologin und Philosophin lehrt Medienethik an der Hochschule für Philosophie in München - und blickt positiver auf diese Art von Sendungen als zahlreiche Journalistinnen und Journalisten. Spannend zu sehen sei, dass "die teilnehmenden Personen eigentlich einen robusten Wertekompass haben", meint sie. Alle Diskussionen darüber, wann fremdgehen beginnt, wer in welcher Situation 'fake' war, wie auf Mobbing reagiert wird, fußen der Theologin zufolge auf individuellen Wertvorstellungen. Somit seien diese Formate sehr wohl normativ. "Erfunden" wurde Reality-TV offiziell erst rund um den Jahrtausendwechsel. "Big Brother", eine Idee des holländischen Produzenten John de Mol machte den Anfang. RTL 2 brachte das Genre nach Deutschland und sorgte für einen Sturm der Entrüstung, weil hier zwölf Personen rund um die Uhr beim Zusammenleben gefilmt wurden. Das sorgte damals für Entsetzen und das Label "Unterschichtsfernsehen", kam interessanterweise aber auch in bestimmten intellektuellen Kreisen gut an. Zeitungen wie die "taz" öffneten sich dem neuen Genre mit Begeisterung. Von dem, was man heute neudeutsch einen Shitstorm nennen würde, ist inzwischen nichts mehr übrig - obwohl inzwischen weitaus extremere Reality-Formate laufen. "In der Medienrezeptionsforschung ist es ein bekanntes Phänomen, dass nicht nur neue Medien, sondern auch neue Formate anfangs kontrovers diskutiert und mitunter als skandalös wahrgenommen werden, mit der Zeit dann aber ein Habituationseffekt eintritt. Das heißt aber nicht, dass das Format an sich besser wird. Die Menschen haben sich einfach daran gewöhnt", erklärt Paganini, die "Big Brother" zu einem der Reality-Formate zählt, das am meisten Interaktion zwischen den Kandidaten zulasse. "Die tägliche Ausstrahlung dieser Formate ermöglicht es eben, dass in den Sendungen die Zeit vorhanden ist, diese Dialoge zu senden", sagt sie. "Big Brother" als Schlüssellochfernsehen gibt es also noch zweieinhalb Jahrzehnte nach dem Start. Und während man das Voyeuristische moralphilosophisch negativ bewerten müsse, sagt Paganini, sei das große Identifikationspotenzial mit den in dem Format auftretenden Kandidaten klar positiv zu bewerten. "Diese Reality-Sternchen, die entstehen ja erst in diesen Formaten. Vorher waren sie ganz normale Menschen. Insofern lädt dieses Genre auch ein zu träumen. Auch wenn man sich nie bewerben würde, bleibt der Gedanke, dass ich das auch sein könnte, zulässig." Es handele sich quasi um ganz normale mediale Inszenierungen. Die Medienethikerin sagt: "Einerseits muss ich das inszenierte Objekt als etwas Besonderes auf ein Podest stellen. Andererseits entsteht so aber eine Kluft hin zum Zuschauer. Wird diese zu groß, dann verlieren die Menschen das Interesse. Da muss man also aufpassen - und hier hat Trash-TV den Vorteil, dass alle diese Teilnehmer auch immer der eigene beste Kumpel sein könnten." Und für den besten Kumpel legt man sich auch ins Zeug. "Eine der großen Stärken von Reality-TV ist die Verknüpfung mit neuen Medien. Die Zuschauerinnen und Zuschauer werden eingeladen, sich zu beteiligen. In Reunion-Shows am Ende einer Staffel werden solche Kommentare mitunter sogar eingebettet. Die Leute, die teilnehmen, haben allesamt TikTok- oder Instagram-Accounts. Das verstärkt das Gefühl der jungen Zielgruppe, wirklich auch Teil von solchen Formaten zu sein. Wer der Influencerin, die gerade im 'Sommerhaus der Stars' ist, schon lange folgt, ist somit also quasi irgendwie selbst auch Teil der Show", so Paganini. So würde bei den stets veranstalteten Spielen ein Sieg des Teilnehmenden in gewisser Weise auch zum Sieg des Zuschauenden. Wer auf den derzeitigen Cast von "Promi Big Brother" blickt, liest dort Namen, die ihre Prominenz einzig der Teilnahme an Reality-Formaten zu verdanken haben. Mike Heiter etwa oder Elena Miras sind mit die bekanntesten "Reality-TV-Sternchen" der TV-Bundesrepublik. "Neuerungen haben immer auch zur Entstehung neuer Berufsgruppen geführt. Dass auch das Reality-Fernsehen dafür sorgt, überrascht nicht, zumal es hier nichts radikal Neues ist. Schon früher gab es etwa Marktschreier oder Leute, die von Stadt zu Stadt gezogen sind, die sich mit Kunststücken präsentiert haben", sagt Paganini, weshalb die Inszenierung des eigenen Ich eigentlich gar kein neuer Beruf sei. Nun hat sich im deutschen Fernsehen eine große Palette an Reality-Formaten entwickelt. "Big Brother" samt Promi-Variante oder das Dschungelcamp, anfangs großer Kritik ausgesetzt, inzwischen mit dem Deutschen Fernsehpreis und einer Nominierung zum Grimme-Preis geadelt, dürften als Speerspitze gelten. Jüngst wird auch verstärkt auf Reality-Formate mit stark strategischem Ansatz gesetzt, etwa im Fall von der nun anlaufenden zweiten Staffel "Die Verräter" (RTL) oder des Formats "Survivor" (Vox), das international erfolgreich ist, in Deutschland jedoch immer hinter den Erwartungen zurückblieb. Und dann gibt es Reality-Fernsehen, das gezielt über die Stränge schlägt. "Das Sommerhaus der Stars" etwa mit teils sogar nötigen Security-Einsätzen oder "Promis unter Palmen" (Sat.1), das in dessen erster Staffel mit Mobbing-Aktionen auffiel. "Wenn Menschen vorgeführt werden und bewusst provoziert wird, dass Menschen verletzt werden, ist das definitiv problematisch. Immer wenn jemandem ein Schaden passiert, ist das als ethisch bedenklich einzustufen", sagt Paganini - die es allerdings falsch findet, mit erhobenem Zeigefinger auf Trash-TV zu schimpfen. "Das ist genau die Eskalationsdynamik, die wir von Medien erwarten. So funktionieren Medien heute auch ein Stück weit. Warum? Weil wir solche Inhalte konsumieren. Insgesamt bewähren sich nur die Inhalte im medialen Setting, die laut, auffällig und schrill sind", behauptet sie. Und auch deshalb sagt sie voraus, dass es künftig Formate geben wird, die die Grenzen des Ausgefallenseins noch weiter austesten werden. Gleichermaßen gebe es aber auch gute Beispiele - nämlich Formate, aus denen das Publikum wirklich etwas mitnehmen könne. "Es gibt Formate, die haben eine Art politische Agenda. Denken Sie an 'Princess Charming' oder die aktuelle 'Bachelorette'-Staffel (beide RTL), in der erstmals eine bisexuelle Frau die Rosen verteilt. Bei solchen Formaten lernen Menschen etwas. Natürlich verzerren sie auch das Bild, weil sie auf schrille Charaktere setzen." Wenn ein Cast aus 20 Homosexuellen bestünde, von denen die Hälfte trans sei, bilde das auch nicht die tatsächliche homosexuelle Community ab. Dennoch sei das Stattfinden im TV positiv zu bewerten. "Man weiß, dass Menschen, die nicht viel reflektieren, im Fernsehen dargestellte Dinge über kurz oder lang als normal annehmen. Da ist auch nicht einmal eine Einordnung nötig, sondern nur das reine Vorhandensein", sagt die Medienethikerin. Insofern würden Reality-Formate wie diese die Toleranz gegenüber gleichgeschlechtlicher Liebe ganz sicher erhöhen. Der seit Jahren anhaltende Boom spricht für sich. Und während mehr oder weniger bekannte Persönlichkeiten dieser Tage in einem knapp 400 Quadratmeter großen Container leben und den Anweisungen von "Big Brother" folgen, dürften hinter den Kulissen bereits die Vorbereitungen auf die nächste "Dschungelcamp"-Staffel laufen. Ob's gefällt oder nicht.