Frankfurt (KNA) Elaine hat alles genau geplant. Ihre Mutter und ihre Schwester ahnen nicht, was sie vorhat, als sie sich mit ihrem kleinen Sohn ein Hotelzimmer nimmt. Sie betäubt den Jungen mit Schlaftabletten, und als sie befürchtet, dass er davon nicht stirbt, ersticht sie ihn. Den anschließenden Selbstmordversuch überlebt Elaine knapp, woraufhin der Mörderin der Prozess gemacht wird. "Wie sehen Sie Ihre Zukunft?", fragt die Richterin. "Aufgeknüpft an einem Strang", erklärt die Angeklagte, die ihrem Leben schon bald auf genau diese Weise ein Ende setzen wird. Laut Statistik tötet in Frankreich alle zehn Tage eine Mutter ihr Kind. Diese Information ist erschütternd - allerdings führt sie für sich genommen ein wenig in die Irre. Denn in dieser Statistik geht es weniger um Rabenmütter oder kaltblütige Ungeheuer. Kindstötungen sind oftmals Teil einer erweiterten Selbsttötung beziehungsweise eines Suizidversuchs. Eine Arte-Dokumentation nimmt diese Tragödien unter die Lupe und stößt dabei auf ein Muster, das sich in vielen Fällen wiederholt. In ihrer Dokumentation greifen Sofia Fischer und Matthias Desmarres ein Tabuthema auf. Das Phänomen der Kindstötungen ist nicht ganz unbekannt, es existieren dazu diverse wissenschaftliche und literarische Aufarbeitungen - aber dennoch befindet sich dieser Komplex weitgehend unter dem Radar. Aus diesem Grund hat Sofia Fischer Frauen angeschrieben, die wegen Ermordung ihrer Söhne oder Töchter hinter Gittern sitzen. Einige von ihnen haben geantwortet und sich bereit erklärt, ihre Geschichte zu erzählen: "Man wacht nicht einfach morgens auf und beschließt, sein Kind zu töten", erklärt eine von ihnen. "Das ist ein langer Prozess". Kommentiert wird dieser lange Prozess von Rechtsanwälten, die diese Frauen verteidigt haben. Mathieu Lacambre, Chefpsychiater an der Universität von Montpellier, ordnet das Phänomen ein. Unter anderem erklärt er, dass die schockierenden und auf den ersten Blick rätselhaft erscheinenden Fälle nicht nur ein Unterschichtphänomen sind. Kindstötungen kommen auch in arrivierten Familien vor. Wohl gemerkt: jeweils als Folge eines erweiterten Selbsttötungsversuches. Um Mechanismen sozialer Benachteiligung geht es also nur indirekt, gesellschaftliche Faktoren spielen eine Rolle, sind aber bei dieser Thematik nicht entscheidend. Die Betroffenen erzählen praktisch alle ein und dieselbe Geschichte. Mütter, die einen erweiterten Suizid überleben und danach als Kindsmörderin verurteilt werden, waren häufig von sexualisierter Gewalt betroffen, die von ihren Vätern ausging. Der Film gibt diesen Frauen eine Stimme - und verdeutlicht so, wie unendlich schwierig es für die Betroffenen ist, diesen sensiblen Punkt überhaupt zur Kenntnis zu nehmen und darüber zu sprechen. Sogar der Arte-Pressetext nennt es nur vage und in abstrakter Form "Gewalt gegen Frauen", wobei nicht deutlich wird, welche Form von Gewalt überhaupt gemeint ist und vom wem sie ausgeht. Selbst der deutsche Titel "Wenn Mütter ihre Kinder töten" erzeugt eine nicht angemessene Assoziation. Der Film deutet an, dass Frauen, die innerhalb der Familie sexualisierte Gewalt erlebten, ein "hohes Risiko einer tertiären Viktimisierung" haben. Im Klartext: "Ich bin", so eine der im Film zu Wort kommenden Frauen, "in einem gewalttätigen Umfeld aufgewachsen, später habe ich einen gewalttätigen Mann geheiratet - und bin erst nach zehn Jahren von ihm losgekommen". Was aber geschieht, wenn Frauen diesem Teufelskreis nicht entkommen? Vorsichtig nähert sich die Dokumentation diesem Schlüsselthema an. Erahnbar wird, wie Frauen die mit dem Vater durchlebte Erfahrung in der Partnerwahl gewissermaßen reproduzieren. Sie werden nicht selten gestalkt und verprügelt: "Einmal hebelte er die Tür aus und warf sie auf mich". Um sich dem Zugriff derart gewalttätiger Männer zu entziehen, wählen einige der Mütter in ihrer Verzweiflung den Suizid. Ihre Kinder nehmen sie mit, weil sie sie nicht im Stich lassen können. Mit dieser Wiederholungsstruktur ist der Film bei seinem Kernthema angelangt. Beim Zusehen fragt man sich, warum dieses Muster nicht vehementer hervorgehoben und betont wird. Allmählich erst erahnt man, dass diese Zurückhaltung mit der Natur der Problematik selbst zusammenhängt. Der Film nähert sich seiner Thematik behutsam und sensibel an, auch auf der Ebene der visuellen Gestaltung. Mit einem Blick für markante Details werden die Wohnungen der zu Wort kommenden Protagonistinnen gezeigt, so dass die Szenen wie optische Fußnoten anmuten. Stilisierte Cartoons, die Gewaltszenen andeuten, vermitteln eine Ahnung von der inneren Zerrissenheit dieser Frauen. Auf diese Weise gelingt Sofia Fischer und Matthias Desmarres ein hintergründiger Film, der Nachrichten aus einer dunklen Welt überbringt. Ein Film, der nicht alles direkt ausspricht und so auch das Problem der Sprachlosigkeit thematisiert. Ein Film, der nachwirkt. Wenn Sie Suizidgedanken haben oder bei einer anderen Person wahrnehmen: Kostenfreie Hilfe bieten in Deutschland der Notruf 112, die Telefonseelsorge 0800 111 0 111 und das Info-Telefon Depression 0800 33 44 5 33. Weitere Infos und Adressen unter www.deutsche-depressionshilfe.de.