Unterföhring (KNA) Es sind Zahlen in einer Größenordnung, die für Sat.1 lange unüblich waren: Allein in den vergangenen eineinhalb Jahren hat der zur ProSiebenSat.1-Gruppe gehörende Privatsender mehr als 560 Folgen fiktionaler Serien beauftragt - rund drei Viertel davon allein in diesem Jahr. Dahinter steckt die neue Vorabendoffensive des Senders, losgetreten vom früheren Sat.1-Chef Daniel Rosemann, fortgeführt vom amtierenden Sat.1-Programmchef Marc Rasmus. Sat.1 kehrt mit den täglichen Vorabendserien gewissermaßen auch ein Stück weit zu seinen Wurzeln zurück. In den 90er Jahren machten Primetime-Krimis wie "Kommissar Rex" oder "Wolffs Revier" den Sender groß. Hinzu kamen Weeklys wie "Für alle Fälle Stefanie" oder Reihen wie "Der Bulle von Tölz". Über die Jahre blieb davon aber wenig übrig. Seit dem Ende der Erfolgsserien "Der letzte Bulle" und "Danni Lowinski" (beide starteten 2010) war in Sachen Fiction in Sat.1 trotz einiger weiterer Versuche nicht mehr viel los. Und auch in puncto Vorabend-Soap zündeten die Ideen nicht mehr. Das soll jetzt wieder anders werden: "Die eigenproduzierten Serien in Sat.1 entführen den Zuschauer in eine andere Welt", beschreibt Rasmus. Sie bieten Eskapismus, sollen "ein warmes Gefühl vermitteln" und von "starken weiblichen Figuren erzählen, die am Wendepunkt ihres Lebens stehen", umschrieb er es im Sommer in einem Interview mit der "Süddeutschen Zeitung". Dass genau das wichtig ist, ist auch eine Erkenntnis der ersten Phase dieser Soaps. Denn als in 80 Folgen vom "Küstenrevier" (Produktion: Pyjama Pictures) mit Ex-"Großstadtrevier"-Akteur Till Demtröder die Geschichten teils mehr aus männlicher Sicht erzählt wurden, fielen die Ergebnisse prompt schwächer aus. In Sachen Soaps hat Sat.1 eine lange Historie. Schon in den 90ern versuchte sich der Sender mehrfach an diesem Genre, doch weder "Die Wagenfelds" noch die "Geliebten Schwestern" etablierten sich dauerhaft. Erst mit der 2005 gestarteten Telenovela "Verliebt in Berlin" und Alexandra Neldel in ihrer Paraderolle als Lisa Plenske gelang dem Sender ein bis heute nicht mehr wiederholter Erfolg. Ein Erfolg, der Folgen hatte. Serien wie "Schmetterlinge im Bauch", "Eine wie keine", "Hand aufs Herz", oder "Mila" wurden ins Programm gehoben. Sie alle hielten sich nicht lange - einzige Ausnahme war "Anna und die Liebe", eine Telenovela mit Jeanette Biedermann, die es auf immerhin vier Staffeln brachte, ehe das Interesse zurückging und auch hier der Stecker gezogen wurde. Damals setzte Sat.1 bei diesen Formaten auf die UFA als Produktionshaus oder die einst zum eigenen Medienkonzern gehörende Firma Producers at work. Inzwischen engagiert man Unternehmen mit reichlich Know-How in puncto fiktionalem Eskapismus, etwa die Bavaria Fiction, die eine privatwirtschaftliche Tochtergesellschaft von unter anderem WDR, BR und MDR ist. In einigen Punkten ähneln die neuen Vorabendserien denen von früher. Schon immer wurden Sat.1-Soaps besonders warm, herzlich und familiennah erzählt. Und dennoch hat der Sender das Genre neu gedacht - und sich bei der Konzeption augenscheinlich auch daran orientiert, was derzeit in der ARD funktioniert. Dort kommen die nachmittäglichen Telenovelas "Rote Rosen" und "Sturm der Liebe" addiert auf inzwischen annähernd 9000 Folgen. Waren sie früher die Quoten-Überflieger am Nachmittag, gehören beide Serien mittlerweile auch zu den erfolgreichsten Formaten in der Mediathek. Abrufzahlen braucht auch ProSiebenSat.1 mit seiner Streamingplattform Joyn. Mit "Die Landarztpraxis" scheint das gelungen zu sein - exakte Zahlen werden zwar nicht genannt, die Rede ist allerdings von erheblichen Wachstumsraten im dreistelligen Prozentbereich in Staffel 2. Mit diesem Format ging die neue Welle an Vorabendserien los. Entwickelt wurde das Programm, das im Titel nicht ohne Zufall eine Ähnlichkeit zu einem früheren ZDF-Format aufweist, von Filmpool Entertainment. Anders als bei den Filmpool-Dailys "Berlin - Tag & Nacht" und "Köln 50667" für RTL 2 werden nun am bayerischen Schliersee eskapistische Familiengeschichten erzählt. Mit Annette Frier wurde zudem eine vom Sat.1-Publikum geschätzte Hauptdarstellerin gefunden, die in ihrer Rolle als Dorfärztin aufblüht - und inzwischen sogar ihre große Liebe gefunden hat. Der Erfolg sorgt dafür, dass in diesen Wochen bereits die dritte Staffel aufgezeichnet wird - mit im Vergleich zur ersten Staffel doppelter Episodenzahl, nämlich 120. Sie soll nach Weihnachten starten. Die Serien staffelweise auf Sendung zu schicken, damit hat Sat.1 dem Genre übrigens wirklich einen neuen Spin verliehen - und hat sich dabei doppelt geschickt verhalten. Zunächst auf eine begrenzte Anzahl an Folgen zu setzen, um nicht unnötig Geld zu verbrennen, ist nicht nur eine monetär gute Entscheidung gewesen. Es ermöglicht den Autorenteams, mit Staffel-Cliffhangern zu arbeiten und die Fancommunitys auf den Start einer neuen Staffel hinfiebern zu lassen - ähnlich wie es die jungen Zielgruppen auch von internationalen Topserien bei Netflix und Co. kennen. Seit einigen Wochen fügt sich auf dem 19-Uhr-Sendeplatz von Sat.1 nun "Die Spreewaldklinik" (auch hier ist es wohl kein Zufall, dass der Titel einer populären ZDF-Krimireihe ähnelt) ein. Und auch hier werden vor malerischer Kulisse familiäre Tragödien erzählt, auch hier besteht der Cast aus Publikumslieblingen. Ex-"Hallo Robbie"-Darsteller Karsten Speck ist ebenso dabei wie mehrere frühere Cast-Mitglieder der RTL-Soap "Alles was zählt". Interessant ist zudem, wer die Serie für Sat.1 produziert: Es ist die ndf - und somit ein Unternehmen, das seit vielen Jahren für das ZDF Serien die ebenfalls vor malerischer Kulisse agierenden "Bergretter" umsetzt. Ob die Klinikgeschichten aus Brandenburg an den "Landarztpraxis"-Erfolg anknüpfen können, ist noch unklar. Klar ist, dass sie ab Montag im linearen Programm von einer weiteren täglichen Serie um 18 Uhr begleitet werden. Aktuell lässt Sat.1 für diesen Slot zwei weitere Dailys herstellen, die bis in den Sommer 2025 hinein zu dieser Uhrzeit geplant sind. Beide kommen ebenfalls von Firmen, die öffentlich-rechtliches Know-How mitbringen. "Für alle Fälle Familie", eine Serie rund um eine Familienrichterin, die in ihre Heimat zurückkehrt, wird in der Moselregion von Bavaria Fiction hergestellt. "Frieda - Mit Feuer und Flamme" - eine tägliche Serie rund um eine von der Schließung bedrohte Feuerwehr mit Sebastian Deyle ("Rote Rosen") und Laura Lippmann ("GZSZ") - entsteht aktuell in der sächsischen Schweiz und wird von der Saxonia (Gesellschafter: Bavaria Film und MDR Media) produziert. Wesentlicher Eckpfeiler der Saxonia ist seit vielen Jahren die wöchentlich im Ersten laufende Primetime-Klinik-Soap "In aller Freundschaft". Um 18 Uhr will Sat.1, wie es vom Sender heißt, nicht ganz so dramatisch und mit mehr Leichtigkeit und Augenzwinkern erzählen. Insbesondere bei "Für alle Fälle Familie", das übrigens mit gleich vier ehemaligen "Sturm der Liebe"-Gesichtern und der ehemaligen ARD-Moderatorin Isabel Varell besetzt ist, stehe eben die Familie im Vordergrund und somit "das gute Gefühl des Zusammenhalts und der Gemeinsamkeit". Der Sehnsuchtsort an der Mosel - etwa ein Drittel jeder Folge entsteht im Außendreh in und um Cochem - soll das Publikum obendrein "zum Wegträumen animieren". Für den Erfolg bei Joyn pokert Sat.1 in Sachen Daily-Soap also recht hoch. Geht der Plan auf, dann dürften im staffelweisen Wechsel zwei tägliche Soaps gesetzt sein. Nutzt sich eine irgendwann ab, kann sie im Lauf der Zeit durch Neues ersetzt werden. Im besten Fall ist also die Rede von jährlich um die 500 Folgen, die Sat.1 für ein durchgängiges Bespielen des Vorabend-Programms mit eigenen Serien braucht. Die Produktionslandschaft ist längst hellhörig geworden. Mit nahezu allen bekannten Fiction-Hersteller soll der Sender in jüngerer Vergangenheit gesprochen haben. Die Sat.1-Serien geben somit nicht nur dem Publikum Hoffnung, sondern auch einer Branche, die unter knapperen Budgets ebenso leidet wie unter einer neuen Zurückhaltung in Sachen Auftragsvergabe bei den großen internationalen Streamern.