Marl/Essen (KNA) Wenn Unternehmen eigene Probleme verschleppen und am Ende ohne Führungspersonal dastehen, wird nach deutschem Recht eine Geschäftsführung vom Gericht bestellt. Beim Marler Grimme-Institut, bei dem nach heftigen Defiziten Ende 2023 Direktorin Frauke Gerlach ihren Abgang zum nächsten Frühjahr kundtat, gab es zum Glück Peter Wenzel. Der Jugend- und Sozialdezernent der Stadt Datteln stammt aus Marl und ist dort für die SPD in der Lokalpolitik aktiv. Seine Heimatstadt vertritt er schon seit Jahren im Gesellschafterkreis des renommierten Medieninstituts, das 1973 vom Deutschen Volkshochschulverband (DVV) gegründet wurde. Als es richtig ernst wurde, klopfte der DVV - bis heute Hauptgesellschafter des Instituts - bei Wenzel an. Gerlachs Vertrag lief am 30. April 2024 aus, zum 1. Mai übernahm Wenzel als Interimsgeschäftsführer. Das Ziel: Die so renommierte wie ramponierte Institution zu konsolidieren und wieder auf Kurs zu bringen. Das ist geglückt. Zum 1. Januar 2025 übernimmt nun Cigdem Uzunoglu, langjährige Geschäftsführerin der Stiftung Digitale Spielekultur, die Regie in Marl. Zeit für eine Zwischenbilanz. In Essen hat gerade der Grimme-Beirat getagt, ein Gremium aus Brancheninsidern, Wissenschaft, Volkshochschulen. Wenzel, Jahrgang 1963, kommt leicht durchnässt zum Treffpunkt in ein Lokal in der Essener Südstadt. Mit Restrukturierungen kennt er sich aus, den Kita-Zweckverband des Bistums Essen hat der bekennende Katholik Wenzel seinerzeit restrukturiert, als "Mann der Kirche, der zugleich in der SPD beheimatet" ist, hat ihn vor ein paar Jahren mal der damalige Essener Generalvikar Hans-Werner Thönnes gelabelt. "Es ist das Wesen eines katholisch sozialisierten Sozialdemokraten, die Not zu sehen und zu handeln", sagt Wenzel ziemlich zu Anfang des Gesprächs, und es gibt keinen Zweifel: Der Mann meint das gleichzeitig ironisch und zu 100 Prozent ernst. Den Job bei Grimme hat er ehrenamtlich gemacht, sich einen Tag pro Woche freigeschwitzt durch nicht aufgebrauchte Überstundenkontingente und Urlaub. "Natürlich ist das ehrenamtlich, sagt Wenzel, "damit niemand sagt, ich tue das, um noch nen Euro nebenbei zu machen, was ja vielen Kommunalpolitikern vorgeworfen wird. Das war mir wichtig, nicht in irgendeiner Form hier Geld anzunehmen." Aber wie war das mit der Not des Grimme-Instituts, das unter der seit 2014 amtierenden Direktorin Gerlach mehr und mehr vom alten Glanz, neben seinen Preisen auch Thinktank der Medienbranche zu sein, eingebüßt hatte? War diese Not nicht schon wesentlich früher als im Sommer 2023 zu sehen, als mit dem Defizit in sechsstelliger Höhe eine kleine Bombe kurz vor den Jubelfeiern zum 50. Geburtstag platzte? "Also auch wenn es wie ne Ausrede klingt und es von außen vielleicht so aussieht: Dass die Gesellschafter unnötig Zeit verstreichen lassen haben, kann ich ihnen nicht vorwerfen", sagt Wenzel. Sie hätten die Defizite schon gesehen, sie "haben es mit externen Beratungen versucht, aber dann auch erkannt, dass an der Grundstruktur etwas geändert werden muss". Was Wenzel in den vergangenen acht Monaten anging. Personal wurde abgebaut, zwei Mitarbeiter schon 2023, weitere drei gingen oder gehen noch dieses Jahr. Der Haushalt ist nicht zuletzt dank des Verzichts der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter auf eine ihnen zustehende Tariferhöhung fürs Erste konsolidiert. "Da waren viele unternehmerische Entscheidungen getroffen worden, die nicht hilfreich waren", sagt Wenzel diplomatisch zur vorgefundenen Situation. Und dass "Restrukturieren natürlich immer auch heißt, Unangenehmes zu tun. Aber da bin ich prädestiniert für." Schließlich gab es schon damals beim Kita-Zweckverband "kritische Rückmeldungen, Demonstrationen und moralische Vorwürfe. Das war schon ne schwierige Zeit." Gibt es hier irgendwelche Grenzen, was ist seine Richtschnur? "Das fußt auf der katholischen Soziallehre, die ich schon als identisch empfinde mit den Grundsätzen der Sozialdemokratie", sagt Wenzel. Von Ruhrbischof Felix Glenn, der 2008 von Essen nach Münster wechselte, habe er gelernt, "was Verlässlichkeit bedeutet und dass es nichts bringt, den Leuten irgendwas vorzumachen. Wenn man auch die schwierigen Stellen anspricht, kann man mehr erreichen, als wenn man etwas schönredet". Und wie war das bei Grimme? "Wenn du für die Weiterentwicklung einer Unternehmung bist, musst du dich auch immer von alten Zöpfen trennen. Das Bewährte erhalten und Neues wagen." Das bedeute auch, zu vermitteln - sich und den anderen. "Du musst fragen: Wer passt zueinander? Es geht um die Belastungsfähigkeit einzelner Mitarbeiter", sagt Wenzel. Die alte Institutspolitik, bei der Gerlach Grimme hierarchisch führte und das Engagement nicht weniger Mitarbeiter eher bremste, hat Wenzel gestoppt. "Da war sofort mehr Entfaltungsmöglichkeit da." Was er nicht ändern konnte, war die schwierige Finanzlage. Doch auch hier ging es um das Wagen: Der Grimme-Online-Award, 2024 eigentlich wegen der prekären Lage schon vor Wenzels Amtsantritt abgesagt, fand doch statt. Und weil die von ihm stark gepushte Entscheidung erst spät fiel, musste die Arbeit auch noch in kürzerer Zeit als sonst bewältigt werden. Es hat geklappt: Am 16. Oktober war Preisverleihung - nicht mehr wie früher in der noblen Kölner Flora, sondern hübsch bescheiden, aber nicht weniger erfolgreich, im Marler Institut selbst. Schwierige Stellen bleiben aber genug. "Die Nutzung von Arbeitszeit, die ist nicht optimal", sagt Wenzel zum Institutsalltag, ohne als guter Vorgesetzter ins Detail zu gehen. Und dass "die Grundzüge des unternehmerischen Handelns" bei Grimme "nicht zu Hause" seien. "Klar kann man sagen, das muss auch gar nicht sein, es geht hier ja nicht nach Kommerz, sondern nach Qualität. Aber meines Erachtens schließt sich das beim Qualitätsmanagement nicht aus. Qualität wird im Gegenteil nur durch ein gutes Finanzmanagement möglich, oder?" Wobei gerade der Personalabbau in so einem kleinen Institut - bei Grimme arbeiteten schon vor der Krise nur noch knapp 20 Menschen - dann doch noch härter ist als in großen Unternehmen. "Ich hatte zur Sicherung von verbliebenen 3000 Arbeitsplätzen in einem Verband die Aufgabe, diesen um rund 700 Mitarbeiterinnen zu reduzieren, aber das war letztendlich dann doch leichter als in so einem kleinen Laden, wo sich alle seit Jahren kennen." Noch dazu, wenn der neue Chef aus ganz anderen Gefilden kommt. Doch während andere in fremden Branchen eher fremdeln, ist Wenzel selbstbewusst in die bunte Welt des Fernsehens und der Medien eingetaucht. "Es gibt Dinge, von denen ich weniger verstehe, auch das hab' ich schon in der katholischen Kirche gelernt." Was er meint, erläutert Wenzel mit dem Bartimäus-Gleichnis, bei dem Jesus den Blinden auch gefragt habe, "Was willst du, dass ich dir tue" - und dass es ja nicht unbedingt und völlig sicher das "Wieder-Sehen-Können" sein muss: "Vielleicht möchte der Blinde ja auch, dass sein Kind zur Schule gehen kann oder die Oma gesund wird". "Was ich daraus gelernt habe, ist heute meine ganz persönliche Grundhaltung: Du kannst selbst nicht wissen, was der andere braucht." Aber es gehe immer darum, die Kompetenzen der einzelnen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter zu wecken und ihnen freien Lauf zu lassen. "Ich habe auch von denen viel gelernt. Da arbeiten tolle Leute, die haben es richtig drauf! Das habe ich denen auch so gesagt", sagt Wenzel, der aber genauso schonungslos anspricht, was nicht klappt: "Ich meine damit auch das Lernen, wie ich mit bestimmten Situationen umgehe, wie ich besser handeln und es aushalten kann, wenn da nichts kommt." Denn es geht jetzt darum, nicht wolkig zu diskutieren, was in irgendeinem Staatsvertrag stehe, sagt Wenzel, sondern dem Laden zu helfen, wieder auf die Füße zu kommen und seine Arbeit zu machen. Er hat viel mit Kinderschutz zu tun und sieht dessen Grundmotto hier durchaus als übertragbar an: "Beim Kinderschutz gibt es kein Gestern und kein Morgen, der kennt nur das Hier und Jetzt - und genau dieses Hier und Jetzt ist bei Grimme eben in letzter Zeit vergessen worden", sagt Wenzel, der während des Gesprächs gerade mal an einem kleinen Tässchen Mokka nippt. Das sei jetzt auch in den Gremien des Instituts angekommen, vor allem aus der Gesellschafterversammlung habe er viel Rückhalt, Zuspruch und direkte Unterstützung bekommen - und sogar neue echte Freunde gewonnen. Was im Umkehrschluss bedeuten könnte, dass das beim Aufsichtsrat und seinem langjährigen Vorsitzenden, WDR-Programmdirektor Jörg Schönenborn, anders aussah. Und was kommt nun? "Jetzt schnauf ich erst mal durch", sagt Wenzel, und dass es schon ein strammes Programm mit vielen Terminen und Telefonaten fast rund um die Uhr gewesen sei. Der Hauptjob und die Arbeit in der Partei hatten in den letzten Monaten klar die zweite Geige hinter dem Marler Ehrenamt gespielt, wo Wenzel - auch so eine schöne Ironie - ausgerechnet meistens freitags im Institut anzutreffen war. Aber auch familiär "war das jetzt auch an der Grenze, ich bin richtig erschöpft. Denn dazu kommt ja noch diese blöde Verantwortung." Würde er sich das nochmal antun? Wenzel überlegt keine Sekunde. "Wenn ich wieder gefragt würde, würde ich auch wieder helfen. Das kommt aus meiner katholischen Soziallehre". Der Mann passt zu Grimme. Der Namensgeber des Instituts, der frühere preußische Volksbildungsminister und Rundfunkpolitiker Adolf Grimme, war schließlich ein evangelischer Sozialist, dessen Wahlspruch verdächtig an Wenzel erinnert: "Ein Sozialist kann Christ sein, ein Christ muss Sozialist sein." Und weil Weihnachten ist, gibt es noch eine frohe Botschaft hinterher: Die Mitarbeitenden, die zur Rettung des Instituts auf ihre Tariferhöhung verzichten haben, bekommen immerhin einen gewissen Teil des Geldes als Zulage zurück.