80 Jahre Befreiung des Vernichtungslagers Auschwitz - "Die Shoah soll nicht als etwas Vergangenes betrachtet werden"

Von Steffen Grimberg (KNA)

KINO - Zum 80. Jahrestag der Befreiung von Auschwitz startet eine bundesweite Kinoinitiative. Ein Interview mit dem Initiator Eric Friedler vom Haus des Dokumentarfilms Stuttgart über Antisemitismus heute und die Gegenwärtigkeit der Schoah.

| KNA Mediendienst

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Eric Friedler

Foto: Haus des Dokumentarfilms/KNA

Stuttgart/Berlin (KNA) Eric Friedler (53) ist seit 2024 Geschäftsführer und Programmleiter des Hauses des Dokumentarfilms in Stuttgart. Der mehrfach mit dem Grimme-Preis ausgezeichnete Dokumentarfilmer ist einer der Initiatoren der Kino-Initiative zum 80. Jahrestag der Befreiung des Vernichtungslagers Auschwitz-Birkenau. MD: Welches Ziel verfolgt das Haus des Dokumentarfilms mit der Kino-Initiative? Eric Friedler: Immer offensiver und rücksichtsloser zeigt sich ein feiger Antisemitismus in der politischen und gesellschaftlichen Wirklichkeit der Bundesrepublik. Das Haus des Dokumentarfilms möchte mit dieser bundesweiten Kino-Initiative ein deutliches Zeichen gegen diese Gesinnung und geschichtslose und menschenverachtende Pose setzen. Dokumentarfilme dokumentieren den Mord an den Juden und Jüdinnen Europas; Überlebende der Schoah legen Zeugnis ab von den Gräueln in den Konzentrations- und Vernichtungslagern und berichten auch vom jüdischen Widerstand gegen die SS-Wachmannschaften. Ich bin dankbar, dass sich so viele Personen, Institutionen und Kinos dieser Initiative angeschlossen haben und in verschiedenen Veranstaltungen laut gegen Antisemitismus und für jüdisches Leben eintreten. MD: Die Initiative war zunächst für den Südwesten geplant, jetzt gibt es ein bundesweites Echo. Haben Sie damit gerechnet? Friedler: Es ist sehr befriedigend, dass sich so viele Kinos und Organisationen unserer Initiative angeschlossen haben. Täglich melden sich Nachzügler. Am Anfang stand das Ziel, möglichst viele kommunale und andere Kinos vor allem in Baden-Württemberg einzuladen, am 27. Januar 2025 einen Film mit thematischem Bezug zur Schoah oder anderen Verbrechen des NS-Regimes ins Programm zu nehmen. Inzwischen hat die Initiative jedoch eine bundesweite Dimension angenommen, weil wir zum einen den Bundesverband kommunale Filmarbeit e.V. mit ins Boot holen konnten und weil die Gedenk- und Bildungsstätte Haus der Wannsee-Konferenz zusammen mit uns eine zentrale Diskussionsveranstaltung mit Filmpräsentationen in Berlin gestalten wird. Unserer Initiative haben sich insgesamt rund 50 Kooperationspartner angeschlossen, darunter etliche des Kinematheksverbundes, wie etwa die Deutsche Kinemathek in Berlin, das Bundesarchiv in Koblenz oder die Murnau-Stiftung in Wiesbaden. MD: Sie haben den um sich greifenden Antisemitismus schon angesprochen. Was können der Film, das Kino, die Kultur allgemein dagegen tun? Friedler: Die Schoah soll nicht als etwas Vergangenes betrachtet werden, sondern ihre Gegenwärtigkeit im heutigen politischen und gesellschaftlichen Leben befragt und als eine dauernde Verantwortung reflektiert und manifestiert werden. Die Frage ist, von welcher Erinnerungskultur wir sprechen. Gibt es überhaupt ein von allen geteiltes Narrativ, das von Generation zu Generation weitergegeben würde, oder hatten wir, wie Michel Friedman einmal gesagt hat, in Deutschland nicht eher eine Kultur des Verschweigens? Der Film - ob Spielfilm oder Dokumentarfilm - kann Erinnerungen über die Grenzen einer Erfahrungsgemeinschaft hinaus vermitteln. Die Mediengeschichte kennt viele Beispiele, wie durch Kino- oder Dokumentarfilme eine gesamtgesellschaftliche Debatte ausgelöst und der Grundstein dafür gelegt wurde, was wir heute als institutionelle Erinnerungskultur kennen. Daher hat der Film auch eine eminente Bedeutung für die politische Bildung - als Kunstform, die ein Massenpublikum erreichen und nicht nur auf einer intellektuellen Ebene informieren, sondern auch emotional berühren kann. MD: Die Kinos zeigen nicht nur die Filme, es gibt auch meistens eine Diskussion oder ein Filmgespräch. Warum ist das so wichtig? Friedler: Weil es darum geht, dass sich Menschen über das, was sie in diesen Filmen gesehen haben, austauschen. Das Erschrecken über das Gesehene teilen, trauern und darüber hinaus Fragen stellen, sich und anderen, und gemeinsam Antworten suchen. Eine Haltung finden, die den Gräueln der Schoah, dem Leiden der Menschen auch in der Gegenwart einen Raum gibt. Und die Opfer nicht dem Vergessen ausliefert. Unsere Podiumsgäste können dabei mit Informationen helfen, die die Filme selbst vielleicht nicht geben. MD: Zum Auftakt läuft in Stuttgart "Die Ermittlung", RP Kahls neue Kinoadaption des gleichnamigen Bühnendramas von Peter Weiss von 1965 über den ersten Auschwitz-Prozess, in Berlin in Zusammenarbeit mit dem Haus der Wannsee-Konferenz "German Concentration Camps Factual Survey", ein Film, den das britische Ministryof Information gleich 1945 in Auftrag gab. Sind das für Sie Schlüsselfilme zu diesem Thema? Friedler: Ja. Denn Weiss' Bühnendrama, das nicht von ungefähr den Untertitel 'Oratorium in 11 Gesängen' trägt, ist nach wie vor ein Schlüsseltext des 'dokumentarischen Theaters'. Die filmische Übersetzung von RP Kahl ist kongenial. Die einzelnen 'Gesänge' folgen dem Weg der Opfer - von der 'Rampe' über die Leidensstationen in den Lagern, die Torturen und Schikanen und die mitleidlose Entwürdigung bis in die 'Gaskammer'. Was Peter Weiss versucht hat, mit theatralen Mitteln Mitte der 1960er-Jahre zu zeigen, als in Deutschland das Vergessen und Verleugnen der Verbrechen ein nahezu alltägliches Ritual war, das ist in dem britischen Dokumentarfilm in unmittelbarer Schonungslosigkeit zu sehen. Ein filmischer Beweis für die Verbrechen der rücksichtslosen Verfolgung und Massenvernichtung, des millionenfachen Mords an den europäischen Juden, der Drangsalierung und des Mords von Sinti und Roma, Homosexuellen, politischen Gefangenen und vielen anderen gesellschaftlichen Gruppen. MD: An "German Concentration Camps Factual Survey" hat der eher für seine spannungsgeladenen Thriller bekannte Regisseur Alfred Hitchcock mitgewirkt, der Film wurde damals aber nie fertig gestellt und gezeigt. Wie kam es dazu? Friedler: Die Produktionsgeschichte des Films ist kompliziert. Verknappt gefasst: Der Film basiert auf einer Grundidee des Produzenten Sidney L. Bernstein, der als Angehöriger der britischen Armee unmittelbar nach der Befreiung der Konzentrations- und Vernichtungslager vor Ort war. Er ließ Filmaufnahmen machen. Und montierte sie mit verschiedenen Mitarbeitern in London zu einem ersten filmischen Entwurf. Dann fragte er Billy Wilder, zu der Zeit als Angehöriger der U.S. Army in Deutschland, ob er die Gesamtleitung für den Film übernehmen könne. Wilder sagte ab, verantwortete aber später die Regie des von Hanus Burger angefangenen Films "Die Todesmühlen". Hitchcock, in den USA mittlerweile etabliert, befand sich zu dieser Zeit eher zufällig in London, auch weil er wohl plante, mit Bernstein zukünftig zu produzieren. Hitchcock kam Bernsteins Bitten nach, entwarf ein Treatment und gab zusammen mit Cuttern dem Filmmaterial schließlich ein narratives Gesicht. Dass das Ergebnis dann nicht in die Kinos kam, sondern in einem Archiv verschwand, lag mit daran, dass sich die offizielle Politik der westlichen Alliierten gegenüber den Deutschen verändert hatte. Nicht mehr die bedingungslose Konfrontation mit den Verbrechen, die Deutsche begangen hatten, sondern eine eher zugewandte, demokratische 'Re-education' war, verkürzt gesprochen, die neue politische Prämisse. MD: In Berlin wird auch Karl Fruchtmanns "Zeugen - Aussagen zum Mord an einem Volk" von 1981 gezeigt. Dies war der erste Dokumentarfilm im deutschen Fernsehen, der Überlebende der Schoah in Interviews ausführlich zu Wort kommen ließ. Warum geschah das so spät, während fiktionale Stoffe wie die US-Serie Holocaust schon in den 1970er Jahren im (westdeutschen) Fernsehen zu sehen waren? Friedler: Die Auseinandersetzung mit der Schoah war für Karl Fruchtmann ein Lebensthema. Innerhalb seines leider immer noch allzu unbekannten und übersehenen Oeuvres hat er sich mehrfach diesem Thema gestellt - dokumentarisch und in fiktionalisierter Form. Die TV-Serie "Holocaust" fand bei ihrer Ausstrahlung 1979 ein überwältigendes Publikum. Über die Rezeption ist vielfach berichtet worden - über den, verallgemeinernd gesprochen, Schock des deutschen Fernsehpublikums. Aber "Holocaust" erzählt das Leben einer fiktiven jüdischen Familie. Fruchtmanns Film konfrontierte das Publikum mit realen Überlebenden der Schoah. Deren unmittelbare und wirklichkeitsnahe Erzählungen stießen auf heftige Ablehnung. Dass Radio Bremen diesen Film 1981 produzieren und ausstrahlen ließ, ihn 2021 noch ergänzte um die Dokumentation "Zeugen - Wie der Holocaust ins Fernsehen kam", war ein mutiger medien- und gesellschaftspolitischer Akt. Die erfolgreiche amerikanische TV-Serie hat den Sendern tatsächlich erst Raum gegeben, diesen Teil deutscher Geschichte in den Programmfokus einzuschließen. MD: Nehmen Sie in der filmischen Aufarbeitung der Schoah Veränderungen wahr? Gibt es auch im Kino beziehungsweise Fernsehen Tendenzen, hier zu historisieren und zu versuchen, die Auseinandersetzung vom "Heute" zu trennen Friedler: Diese Tendenzen gibt es gewiss, international und auch im deutschen Kino. Dietrich Kuhlbrodt, der ehemalige Staatsanwalt, befasst auch mit der strafrechtlichen Verfolgung von NS-Verbrechen, und parallel ein agiler Filmpublizist, hat das mit seinem Buchtitel "Nazis immer besser" polemisch zugespitzt - eine kundige Analyse der filmischen Darstellungen des Nationalsozialismus und der Verbrechen. Eine Ausnahme in dieser fast unendlichen Reihe historisierender Filme möchte ich nennen: Theodor Kotullas "Aus einem deutschen Leben" von 1977, also noch vor "Holocaust" entstanden - und in den bundesdeutschen Kinos kein Erfolg. Eine nüchterne, auf Verhörprotokollen und autobiografischen Aufzeichnungen basierende Rekonstruktion des Lebens von Rudolf Höß, dem Kommandanten des Konzentrations- und Vernichtungslagers Auschwitz. Kotulla gelingt es, obwohl es ein Spielfilm ist, geradezu dokumentarisch den Kern der Mechanik der deutschen Vernichtungsmaschinerie zu dekonstruieren. Darauf, so denke ich, kommt es in den filmischen Auseinandersetzungen an: die Schoah nicht als etwas Vergangenes zu betrachten, sondern ihre Gegenwärtigkeit im heutigen politischen und gesellschaftlichen Leben kenntlich zu machen, sie als eine dauernde Verantwortung zu demonstrieren. MD: Was erhoffen Sie sich persönlich von der Initiative? Friedler: Ich erhoffe mir, dass die Filme, die unsere Partner und wir zeigen, und die begleitenden Diskussionen uns vergegenwärtigen, Geschichte nicht als etwas Vergangenes zu betrachten und die NS-Diktatur nicht als einen "Vogelschiss" abzutun, wie es einmal ein deutscher Politiker in arroganter Gedankenlosigkeit getan hat. Wenn das mit unserem Angebot gelänge, dann wäre es - aus meiner Sicht - ein kleiner demokratischer Kiesel, den wir in das Heute einbringen könnten.

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