Hamburg (KNA) Leuchtturm? Flaggschiff? Lagerfeuer? Das multimediale Phänomen "Tagesschau" ist so gut wie jedem Bewohner Deutschlands vertraut. Das lineare Publikum der in allerhand Programmen ausgestrahlten 20-Uhr-Hauptausgabe wird Jahr für Jahr stolz addiert und beläuft sich weiterhin auf durchschnittlich mehr als neuneinhalb Millionen Menschen. Auf Plattformen wie TikTok und Instagram ist die "Tagesschau" enorm präsent. Ihr Internetportal tagesschau.de bleibt angesichts der Bekanntheit der Marke unter seinen Möglichkeiten - vielleicht ja, um den seit Jahren schwelenden Streit mit den Presseverlagen um "elektronische Presse" nicht weiter anzufeuern? Auch darüber kann man streiten. Und gestritten wird um die unverwüstliche Medienmarke viel. Seit wenigen Wochen will das 296-seitige Buch "Inside Tagesschau. Zwischen Nachrichten und Meinungsmache" (Langen-Müller, 22 Euro, 16,99 Euro als E-Book) mitstreiten. Autor Alexander Teske hat ab 2018 sechs Jahre in der Hamburger ARD-aktuell-Redaktion, die für die "Tagesschau" zuständig ist, gearbeitet. Davor war er noch länger für den MDR tätig. Dass da ein Ex-Insider in enthüllender Absicht allerhand auspackt, gehört zum Werbekonzept. "Angepasst. Aktivistisch. Abgehoben", klebt auf dem Titel des in die "Spiegel"-Bestsellerlisten eingestiegenen Buchs. Formal handelt es sich um einen in der Ich-Form im Präsens geschriebenen Erlebnisbericht. Manche Streitgespräche schildert Teske im Wortlaut und beteuert eingangs, das geschehe "aus meinen Erinnerungen und Aufzeichnungen". Was die Frage aufwirft, ob er solch ein Buch von Anfang an plante. Halbherzig wirken zweieinhalb Seiten mit zwölf eher erratischen "Anmerkungen" am Ende. Dabei zitiert Teske, um seine Kritikpunkte zu belegen, aus allerhand Studien und journalistischen Artikeln. Wenn er vom "Klima der Angst im Großraumbüro" schreibt, bezieht sich das auch auf den 100-seitigen "NDR-Klimabericht" aus dem März 2023, der weiterhin im Internet steht. Warum nicht den Link dokumentieren? Insgesamt handelt es sich um eine etwas unentschlossene Mischung aus im "Haifischbecken" der "Tagesschau"-Redaktion selbst erlebten Begebenheiten und vertiefender, dabei natürlich auch subjektiver Analyse. "Ich verzichte darauf, Kollegen, die nicht in der Öffentlichkeit stehen, namentlich zu nennen", schreibt Teske. Die "verwendeten Vornamen" habe er geändert. Allerdings werden wiederholt auftauchende Vornamen (oder Nachnamen?) oft als "L." und "N." abgekürzt. Das wirkt nicht stringent. Schnell aber tauchen allerhand Personen, denen man weiterhin auf dem Bildschirm begegnet, auf. Etwa Oliver Köhr ("Der Chefredakteur der ARD ist ein König ohne Königreich") und Sarah Frühauf, die öfters den inzwischen "Meinung" genannten "Tagesthemen"-Kommentar spricht. Oder, wiederholt lobend erwähnt, Iris Sayram ("Wenn sie einen Kommentar zur Kindergrundsicherung oder zu Hartz IV verfasst, weiß sie, wovon sie spricht, denn ihre Mutter war Putzfrau und Prostituierte, öfter auch im Gefängnis", schreibt Teske und zitiert damit aus Sayrams autobiografischem Buch "Für euch"). Dadurch entsteht auch für Leser, die "Tageschau"-Inhalte eher sporadisch verfolgen, schnell ein Bild. "Ihrer Aufgabe, eine kritische Distanz zu den Herrschenden zu halten, wird die 'Tagesschau' nicht gerecht. Denn sie wird von einem elitären Kreis verantwortet. Sie haben ähnliche politische Ansichten und kommen fast ausschließlich aus dem Westen", lautet einer der zentralen, wiederholt paraphrasierten und an allerhand Diskussionen (sowie Bestseller-Bücher) anschlussfähigen Vorwürfe. Offensichtlich kommt Teskes Kritik aus einer nicht-linken Ecke, die ähnlich offenkundig bei ARD-aktuell seit Jahren nicht sehr stark vertreten ist. "Nachrichten, die nicht in ihr Weltbild passen, werden von den Chefs vom Dienst klein geredet und schaffen es nicht in die Sendung". Diese CvDs, die Teske nicht namentlich nennt, aber gerne anhand ihrer Kleidung charakterisiert, etwa der Beschriftung ihrer Kapuzenpullis, seien die eigentlichen Meinungsmacher. Ausführlich exemplifiziert der Autor das an allerhand Gewalttaten von Geflüchteten seit 2016, die die "Tagesschau" nicht oder nur wenig thematisierte. Nicht nur einmal fragt Teske "Wie umgehen mit der AfD?" und dekliniert dann die seit langem und weiterhin geführte Diskussion durch, ob die Partei so stark wurde, weil ihre Themen so viel Beachtung fanden. Oder im Gegenteil deshalb, weil die Berichterstattung sie so klein wie möglich halten wollte und der AfD so "den Opfermythos schenkte", den sie längst in ihren eigenen Medienkanälen zu bewirtschaften versteht. Intensiv befasst Teske sich mit der Faktencheck-Redaktion der "Faktenfinder" und deren Ex-Chef Patrick Gensing ("Immer wieder fällt vor allem der Faktenfinder mit tendenziösen Artikeln auf, die so gar nicht zur Marke Tagesschau passen wollen"), die freilich vor allem online auftritt. Außerdem bündelt Teske eine Menge von auch aus anderen Perspektiven offenkundig berechtigten Vorwürfen: von der für eine Regionalpartei überproportionalen Bedeutung der CSU bis hin zur ungleichen Verteilung der stark USA-fixierten Auslandsberichterstattung, die zu Lasten von Katastrophen auf anderen Kontinenten geht. Wie blitzschnell Hauptstadtstudio-Reporter Michael Stempfle nach einer besonders lobenden "Analyse" des neuen Verteidigungsministers Boris Pistorius auf den Sprecher-Posten in dessen Ministerium wechselte, dient ihm als eines von vielen Beispielen für verwischte Grenzen zwischen regierungsnahem Journalismus und Politik. Und für die West-Fixierung, also Ost-Vernachlässigung, nennt der gebürtige Leipziger Teske viele gute Beispiele. Wenn es etwa verstorbene ostdeutsche Prominente nur mit Prädikaten wie "die Brigitte Bardot des Ostens" (Eva-Maria Hagen) in die 20-Uhr-Ausgabe der "Tagesschau" schaffen. Der Vorwurf mangelnder Diversität geht aber über die Ost-West-Frage hinaus. Was Migrationshintergründe angeht, sei die "Tagesschau" an den entscheidenden Stellen hinter den Kulissen deutlich weniger heterogen als vor ihren Kameras, vor denen "Menschen mit Migrationshintergrund oft moderieren" dürfen. Da zitiert Teske sogar aus Alice Hasters' Buch "Was weiße Menschen über Rassismus nicht hören wollen". Politisch eindeutig festlegen lässt er sich nicht. Ein paar saftige subjektive Details bietet das Buch erwartungsgemäß auch. Helge Fuhst, aktuell Zweiter Chefredakteur von ARD-aktuell, sei von "aggressiver Freundlichkeit" und nutze seine Bildschirmpräsenz als "Tagesthemen"-Moderator als "Karriereturbo". (Tatsächlich hat es Fuhst 2024 als vergleichsweise sehr junger Kandidat bis in die Stichwahl um die WDR-Intendanz geschafft und gilt nun bei der anstehenden Intendantenwahl beim NDR als nicht eben chancenlos.) Ausführlich befasst sich Teske auch mit den in steigendem Ausmaß befragten "Experten". Die, die besonders oft im Fernsehen auftauchen, "gehen fast immer ans Telefon, auch an der Aldi-Kasse, auch bei unbekannten Nummern", bieten sich also offensiv an. Zu so manchen Punkten würde man gern noch mehr erfahren. Immer wieder kommt das Buch auf die "Kleinstaaterei" in der Arbeitsgemeinschaft der öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten zu sprechen. Wie genau aber die ARD-aktuell-Redaktion funktioniert, welche Rolle das von allen ARD-Anstalten besetzte Hauptstadtstudio spielt, wie "Tagesschau" und "Tagesthemen" sich abstimmen und wie sich die unterschiedlichen Ausspielwege der "Tagesschau" koordinieren - dazu finden sich leider nur Bruchstücke. Dabei sind Teskes Beispiele für ganz unterschiedlichen Boulevardisierungstendenzen der Fernsehsendung ("Gratuliert vier Tage in Folge der Queen zum Thronjubiläum und fährt zehn Tage lang ihren Sarg spazieren") und ihres Tiktok-Kanals (der lieber Fragen wie "Wieviel Geld gibst du für eine Kugel Eis aus?" aufwirft) aufschlussreich. Bemüht sich die "Tagesschau" um eine einheitliche Markenführung, oder biedert sie sich eher unterschiedlichen Zielgruppe auf unterschiedliche Weise an? Auch die emsige Konkurrenzbeobachtung, die häufig dazu führt, dass alle Nachrichtenmedien berichten, was alle berichten (und dass, was wenig berichtet wird, überall kaum vorkommt), streift das Buch wiederholt. Dabei kommen dann auch die "heute"-Nachrichten des ZDF regelmäßig vor. Um die Frage, ob die Rundfunkanstalten sich bei Nachrichten gegenseitig öffentlich-rechtliche publizistische Konkurrenz liefern, geht es jedoch nicht. Fazit: "Inside Tagesschau" ist ein gut lesbares Buch, das natürlich provozieren will und das auch weitgehend geschickt tut. Die "Tagesschau" als Leuchtturm sollte so etwas aushalten können - und sich genau solchen Diskussionen wieder stärker stellen. Ex-Chefredakteur Kai Gniffke hatte, wie Teske auch erwähnt, zu strittigen Themen wie dem, über welche Gewaltverbrechen "Tagesschau"-Ausgaben berichten und über welche nicht, immerhin in Textform gebloggt. Das erreichte nie die große Öffentlichkeit, demonstrierte aber Problembewusstsein und umriss zumindest transparent, dass und wie Nachrichtenredaktionen über ihre Themenauswahl diskutieren. Genau so müsste ein Nachrichten-Leuchtturm in schwierigen Zeiten agieren.