Bonn (KNA) Seit vielen Jahrzehnten verbinden Politiker, Unternehmen und Bürgerinnen und Bürger die Digitalisierung mit dem Versprechen von Freiheit und Wohlstand. Die Schattenseiten der Online-Wirtschaft rücken oft in den Hintergrund, wenn neue Technologien Beeindruckendes leisten und Konzerne Erfolge feiern. Dabei zeigen sich in den Macht- und Ausbeutungsverhältnissen hinter der Digitalisierung überraschende historische Kontinuitäten, sagt der Technik-Journalist Ingo Dachwitz. Er arbeitet für das Online-Medium netzpolitik.org und hat gemeinsam mit dem Globalisierungsexperten Sven Hilbig von der Organisation Brot für die Welt ein Buch darüber geschrieben: "Digitaler Kolonialismus. Wie Tech-Konzerne und Großmächte die Welt unter sich aufteilen". Darin zeigen Dachwitz und Hilbig, wie die astronomischen Gewinne großer Tech-Unternehmen, vor allem aus den USA und aus China, durch die Ausbeutung von Menschen und Natur im Globalen Süden zustande kommen - eine neue Variante kolonialer Abhängigkeiten. Denn bis bei den Menschen ein Smartphone in der Tasche steckt, bis ein soziales Netzwerk sich ohne Hass und Hetze präsentieren kann, bis eine KI Menschen Arbeit abnimmt, sind im Globalen Süden viel Arbeitskraft und Ressourcen in die Digitalisierung geflossen - während die Umsätze woanders anfallen. Ein Mechanismus, der funktioniert, seit sich die europäischen Großmächte zum ersten Mal aufmachten, um ferne Welten zu erobern und gewinnbringend auszubeuten. Rohstoffe - seien es Baumwolle, Erdöl oder Silber - wurden in den Kolonien abgebaut und günstig in die Mutterländer verschifft, wo sie weiterverarbeitet werden. Die teuren Endprodukte gingen dann zu deutlich höheren Preisen wieder zurück in die Kolonien. Ein Verlustgeschäft für den Globalen Süden, das auch nach der politischen Unabhängigkeit der meisten Kolonien im 20. Jahrhundert fortbesteht. Vor allem auch in der Digitalwirtschaft, so die These, der sich Dachwitz und Hilbig in ihrem Buch gewidmet haben. Dabei blicken sie neben dem klassischen Rohstoffgeschäft, bei dem heute Cobalt, Lithium oder Gold im Vordergrund stehen, die für die Herstellung digitaler Geräte benötigt werden, auch auf andere Bereiche. Zum Beispiel auf das Thema Arbeit. Während Digitalkonzerne gerne den Eindruck erwecken, dass ihre KI-Modelle Arbeit wie von Zauberhand ganz alleine erledigen können, stecken dahinter zahllose Clickworker. "Die Arbeitskraft von outgesourcten Beschäftigten, die überwiegend im Globalen Süden Contentmoderation betreiben, sind essenzieller Bestandteil für das Funktionieren sozialer Medien", erklärt Dachwitz im Interview mit der Katholischen Nachrichten-Agentur (KNA). Auch die Datenarbeit hinter den großen KI-Modellen finde oft im Globalen Süden statt, und zwar "unter sehr ausbeuterischen Arbeitsverhältnissen", wie Dachwitz ergänzt. Die Menschen seien schlecht bezahlt, hätten kurze Verträge und verrichteten oft traumatisierende Tätigkeiten. Denn damit Nutzer sich sicher auf Online-Plattformen bewegen können, muss jemand Darstellungen von Gewalt, Kindesmissbrauch, Sex und Tod herausfiltern. Eine Arbeit, für die die Mitarbeiter oft keinerlei psychologische Unterstützung erhalten. Die Parallelen lassen sich auch auf die Infrastruktur ausweiten, betont Hilbig im Interview: "Genauso wie es früher Konzerne aus dem Globalen Norden waren, die Erdöl-Pipelines verlegt und Raffinerien gebaut haben, gehört die digitale Infrastruktur heute Unternehmen aus den USA oder China." Wie diese aufgebaut werde, richte sich dabei keineswegs nach den Interessen der lokalen Bevölkerung: "Die Bahnlinien auf dem afrikanischen Kontinent, die in der Kolonialzeit entstanden sind, verlaufen bis heute so, dass man Rohstoffe vom Landesinneren zu den Häfen transportieren kann, anstatt die Länder untereinander zu verbinden." Wenn die EU nun Nordafrika und Europa mit einem Unterseekabel verbinde, sei der Gedanke ganz ähnlich, ergänzt Dachwitz: "Hier sollen Daten aus Afrika nach Europa fließen, um hier in den Rechenzentren verarbeitet zu werden. Die Wertschöpfung wird aus den Herkunftsstaaten der Daten abgezogen." Auch die unheimliche Macht mancher Digitalkonzerne wie Elon Musks SpaceX, das einen Großteil des satellitengestützten Internets kontrolliert, hat seine Vorläufer in der Kolonialzeit, bei Handelsgesellschaften wie der britischen Ostindien-Kompanie: "Das waren Vorläufer der Public-Private-Partnership-Modelle, die wir heute wieder sehen", sagt Dachwitz. Dass die Digitalisierung immer mehr zum geopolitischen Instrument werde, helfe nicht gerade bei der Bewältigung dieser Abhängigkeiten: "Im Wettstreit der Großmächte schaukeln sich diese Prozesse noch weiter hoch", erklärt Hilbig. Die USA wollten weiter die Nase vorne behalten, China versuche, aufzuholen, die EU wolle geopolitisch auch mitspielen und reguliere das Internet hauptsächlich für die eigenen Bürger. Zwar verschaffe eine multipolare Weltordnung dem Globalen Süden auch gewisse Freiheiten, weil man sich zwischen mehreren Partnern entscheiden könne, so Hilbig weiter. Zugleich nehme der Druck der Tech-Konzerne zu, auf den Märkten in Afrika oder Lateinamerika die Nummer eins zu bleiben. Was also anfangen mit diesen bedrückenden Informationen? Die Autoren haben gleich mehrere Antworten parat: "Wir brauchen uns nicht der Illusion hingeben, dass wir durch individuellen Konsumverzicht Systemveränderungen herbeiführen kann", sagt Dachwitz: "Gleichzeitig heißt das nicht, dass man es nicht machen kann oder sollte." Wichtig sei zunächst einmal, sich selbst ein Bewusstsein für die Ausbeutungsprozesse zu schaffen und sich mit kleinen Schritten Alternativen zu bauen: "Wenn ich weiß, unter welchen Bedingungen die Rohstoffe für mein Telefon gefördert werden, brauche ich vielleicht nicht jedes Jahr ein neues", so der Journalist. Die Perspektiven von Fachleuten und Betroffenen aus dem Globalen Süden, die im Buch einen großen Raum einnehmen, zeigen aber auch: Ganz dekolonisieren lässt sich die Digitalbranche wohl nicht, solange sie kapitalistisch organisiert ist. Renata Ávila Pinto, Menschenrechtsaktivistin aus Guatemala, zeichnet in ihrem Nachwort eine Utopie für eine gerechte Digitalisierung. Wie diese zu erreichen sei, zeigen viele Initiativen auf der ganzen Welt. "Eines der besten Beispiele für Selbstermächtigung ist für mich, dass sich ausgebeutete Tech-Arbeitskräfte in Kenia zusammenschließen, sich organisieren und auch juristisch gegen Tech-Konzerne vorgehen", berichtet Dachwitz. Auch Regierungen, beispielsweise in Nigeria, Indien oder Südafrika, arbeiten an einer Digitalpolitik, die etwa auf lokale Datenverarbeitung drängt, um die Wertschöpfung im Land zu behalten. "Es sind dicke Bretter, die zu bohren sind", betont Dachwitz: "Wir sprechen hier von Machtstrukturen, die über Jahrhunderte gewachsen sind." Gerade Europa könne aber auch wirtschaftlich von einer Zusammenarbeit auf Augenhöhe profitieren, ergänzt Hilbig: "Es wäre vernünftig gewesen, wenn Europa schon vor langer Zeit eingestanden hätte, im Datenbereich von China und den USA abgehängt worden zu sein." Dann hätte man auf Augenhöhe auf andere Partner zugehen und mit ihnen zusammenarbeiten können - zum Wohle aller Beteiligten.