Debatte zwischen Europa und den USA - Transatlantische Meinungsvielfalt beim Thema Meinungsfreiheit

Von Christian Bartels (KNA)

MEINUNGSFREIHEIT - Sollten Gesetze Desinformation bekämpfen? Sollte gerade der Staat nicht festlegen, wo Desinformation beginnt? Diesen Fragen widmete sich eine Diskussion am Institut für Europäisches Medienrecht über deutsche und US-amerikanische Sichtweisen.

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"Sind Lügen geschützt?"

Foto: EMR/Institut für Europäisches Medienrecht /KNA

Berlin (KNA) Meinungsfreiheit und Meinungsvielfalt finden alle gut, zumal in Demokratien. Wie unterschiedlich die schönen Ideale selbst in Staaten des klassischen Westens bewertet werden, zeigte sich spätestens, als der neue US-amerikanische Vizepräsident J.D. Vance bei der Münchner Sicherheitskonferenz statt, wie erwartet, über den Ukrainekrieg vielmehr über die in Europa angeblich gefährdete Meinungsfreiheit sprach. Dieser anschwellende Dissens verlieh einem lange geplanten deutsch-amerikanischen Dialog des Department of Law der Universität Luxembourg und des Saarbrücker Instituts für Europäisches Medienrecht (EMR) am Donnerstag unvorhergesehene Aktualität Unter dem provokanten Titel "Sind Lügen geschützt?" trafen mit Peter Müller, von 1999 bis 2011 für die CDU saarländischer Ministerpräsident und anschließend bis 2023 Richter am Bundesverfassungsgericht, und Russell L. Weaver, Rechts-Professor an der University of Louisville in Kentucky, zwei medienjuristische Experten aufeinander. Zunächst legte Müller das deutsche Verständnis des Begriffs dar: Demzufolge ist Meinung etwas subjektiv Wertendes, das sich von empirisch nachweisbaren Tatsachen unterscheidet und auch beleidigen, diskriminieren und unanständig sein könne. In diesem Sinne seien zwar Meinungen geschützt, nicht aber falsche Tatsachenbehauptungen. Bei vorsätzlich und nachweislich falschen Äußerungen greife die Meinungsfreiheit also nicht. Die Rundfunk- und Pressefreiheit seien in diesem Zusammenhang "dienende Grundrechte im demokratischen Diskurs", die sichern sollen, dass eine möglichst große Vielfalt der Meinungen abgebildet wird. Im Rahmen der Pressefreiheit solle das eher durch Vielfalt der Pressemedien und deren unterschiedliche Ausrichtung geschehen, im Rahmen der Rundfunkfreiheit durch Binnenpluralität und Ausgewogenheit des Programms öffentlich-rechtlicher Anstalten. Ein "Übergrundrecht", das anderen Grundrechten vorrangig ist, sei die Meinungsfreiheit nicht. Abwägung gegenüber anderen Grundrechten sei immer notwendig, sagte Müller: "Lügen werden nicht uneingeschränkt geschützt." Was die Meinungsvielfalt angeht, ließen sich im Internet viele Probleme beobachten, etwa die tendenzielle Belohnung von Hass und Hetze: "Algorithmen sind nicht darauf angelegt, Vielfalt widerzuspiegeln". Das erzeuge einen "Regelungsbedarf", damit der demokratischer Diskurs nicht verfälscht wird. Solche Regeln setzt der Digital Services Act (DSA) der EU, in Deutschland als Digitale-Dienste-Gesetz bekannt. Es bedürfe der Verantwortlichkeit von Plattformen für ihre Inhalte, eines diskriminierungsfreien Zugangs, leichter Auffindbarkeit des gesamten Meinungsspektrums, zügiger Entfernung von diskriminierenden Inhalten sowie des Einschreitens gegen Desinformation, so Müller. Probleme bei der DSA-Umsetzung sprach der frühere Verfassungsrichter exemplarisch anhand der Debatten über "Trusted Flaggers" an. Kritik, dass so eigentlich staatliche Strafverfolgungs-Aufgaben teilweise privatisiert würden, sei legitim. Faktenchecks, die Meta-Chef Mark Zuckerberg in den USA abschaffen will, seien nur eine Möglichkeit unter mehreren, die DSA-Vorgaben zu erfüllen, so Müller: "Die Dinge sind im Fluss", doch ein "völliger Verzicht auf Regulierung kann nicht die Lösung sein". Ansonsten würde die bestehende Meinungsfreiheit zur Meinungsfreiheit von wenigen, die Geld und Macht besitzen. "We don't trust government", leitete Russell Weaver bei der zweisprachigen Veranstaltung den Vortrag über die US-amerikanische Sicht ein. Eine Grundskepsis gegenüber Regierungen, staatlichen Stellen und auch dem Parlament sei schon historisch in der US-Verfassung angelegt, weil viele der ersten Einwanderer gerade wegen mangelnder Rede-, Meinungs- und Gewissensfreiheit aus Europa emigriert waren. Unterschiede zwischen den Sichtweisen machte Weaver am Beispiel der Holocaust-Leugnung deutlich, die etwa in Deutschland und Frankreich verboten ist, in den USA aber nicht. Das fehlende Verbot habe keine negativen Auswirkungen, da die US-Amerikaner zurecht darauf vertrauten, dass Lügen sich nicht durchsetzen, sagte Weaver. Desinformation gebe es seit jeher überall, vom alten Rom bis zu den jüngsten US-Präsidenten. Donald Trump verbreite offenkundig Desinformation, wie es seine Vorgänger Biden und Obama aber auch getan hätten, so Weaver. Seit jeher seien Massenmedien unausgewogen ("biased"), je nach dem Gusto ihrer Besitzer. Das Internet und Plattformen wie X und Facebook sieht Weaver als erste demokratische Massenmedien. Als Beispiel nannte er die ägyptische Revolution von 2011. Was als Desinformation bezeichnet werde, unterscheide sich je nach Perspektive und Machtinteressen. Dagegen seien von Usern formulierte "Community Notes", wie sie auf X und künftig auch auf Facebook eingesetzt werden, ein probates Mittel, Falschinformationen einzudämmen. Bei der Idee, dass Regierungen entscheiden sollen, wo Desinformation beginnt, fühle er sich nicht wohl, sagte der Jurist. Es sei besser, auf eine Bevölkerung zu setzen, die selbst die richtigen Schlüsse zieht, anstatt auf eine, die von der Regierung verlange, über richtig und falsch zu entscheiden. Allein der Regierung zu misstrauen, springe zu kurz, entgegnete Peter Müller dem amerikanischen Gast bei der anschließenden Diskussion. Der Staat müsse vielmehr "für einen Rahmen sorgen, in dem der mündige Bürger vernünftige Entscheidungen treffen kann". Das gelte umso mehr, wenn große Tech-Konzerne den Markt - in diesem Fall also das Internet - immer stärker dominierten. Und erst recht, wenn offensichtlich sei, dass etwa Elon Musks Plattform X "eine bestimmte politische Richtung präferiert". Weaver hielt dagegen, dass während Joe Bidens Präsidentschaft kritische Berichte über Aktivitäten des Präsidentensohns Hunter Biden als russische Desinformation diskreditiert wurden und aus den Medien verschwanden - obwohl es sich weithin um Tatsachen gehandelt habe. Regierungen, so Weaver, sollten daher nicht festlegen, was Desinformation ist. Den Rahmen zu bestimmen, bedeute keineswegs, Einfluss auf Inhalte zu nehmen, konterte Müller. Es gehe vielmehr darum, dafür zu sorgen, dass "die Vielfalt der Meinungen" als gemeinsame Grundlage für den demokratischen Diskurs auch in Onlinemedien abgebildet werde. Auch Meinungen, die einem nicht gefallen, müssten fair behandelt werden, sagte der CDU-Mann auf Publikumsnachfrage mit Blick auf tagesaktuelle Diskussionen über die "Omas gegen rechts". Er selbst sei "ein Opa gegen links", sagte Müller; für beide Positionen müsse Raum sein. Beide Juristen sprachen sich wegen der Meinungsfreiheit auch dagegen aus, das Wettbewerbsrecht gegen die immer mächtigeren Konzerne einzuschalten. Bei Marktdominanz könne Wettbewerbsrecht helfen, nicht aber bei der Sicherung von Meinungsvielfalt, erklärte Müller. Und Weaver erläuterte, dass er deswegen "größere Plattformen, auf denen Menschen aus unterschiedlichen Milieus aufeinandertreffen", eher bevorzuge als kleinere, in denen sich nur Gleichgesinnte organisierten. Mit Blick auf die Debatte um den Konflikt zwischen alten und neuen Medien meinte Weaver noch, es sollte keine Unterschiede zwischen etablierten Medien wie Zeitungen und Onlinemedien gemacht werden. Kurzum: Die konzentrierte Diskussion machte mit plastischen Beispielen deutlich, wie unterschiedlich wichtige Fragen der Digital-Ära in den USA und Europa gesehen werden. Auch wenn wichtige Aspekte wie das US-amerikanische Providerprivileg aus den 1990er Jahren (das Plattformen davor schützt, für Äußerungen ihrer Nutzer haftbar gemacht zu werden, und das qua Marktmacht der Plattformen bislang faktisch auch in der EU gilt) nicht zur Sprache kamen: Viel Konfliktpotenzial, das lange Zeit eher im Verborgenen schlummerte, liegt inzwischen offen auf dem Tisch. "Wenn wir uns nicht über Inhalte verständigen können, können wir uns vielleicht noch über Verfahren verständigen", schloss Müller in Anlehnung an Niklas Luhmann versöhnlich. Denn in Europa, sekundierte Medienrechts-Professor Mark D. Cole, der die Diskussion gemeinsam mit Stephan Ory vom EMR leitete, bestehe anders als in den USA noch ein Grundvertrauen in unabhängige Medien als Schiedsrichter.

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