Gefahr für digitale Grundrechte - EU hält trotz Kritik an Alterskontrollen für Jugendschutz fest

Von Esther Menhard (KNA)

JUGENDSCHUTZ - Die EU-Kommission will mithilfe von Alterskontrollen im Netz Kinder und Jugendliche vor schädlichen Inhalten schützen. Doch Experten warnen vor Folgen für Grundrechte sowie demokratische Werte und stellen die Wirksamkeit in Frage.

| KNA Mediendienst

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Jugendschutz im Netz

Foto: Harald Oppitz/KNA

Brüssel (KNA) Ob Darstellungen von Gewalt, Online-Glücksspiel, Informationen zu Suizid oder pornografische Videos - viele Inhalte im Internet können Kinder und Jugendliche psychisch und emotional überfordern oder sogar traumatisieren. Während bei Filmen und Computerspielen eine Jury beurteilt, was jugendfrei ist und was nicht, werden Inhalte im Internet kaum kontrolliert. Besonders auf Social-Media-Plattformen wie X, Instagram oder TikTok treffen Minderjährige auf eine Flut aus Bildern, Videos und Angeboten, die ihrem Alter nicht angemessen sind. Dass gerade auf X immer weniger Mitarbeiter, sogenannte Content-Moderatoren, die hochgeladenen Inhalte prüfen und gegebenenfalls sperren und auch Meta zumindest in den USA die Moderation von Inhalten drastisch zurückfährt, verschärft das Problem. Eltern wie auch Erzieher und Lehrkräfte suchen nach Maßnahmen, um Kinder und Jugendliche vor verstörenden Inhalten besser schützen zu können. Betreiber von Glücksspiel-Websites oder pornografischen Videoportalen prüfen das Alter ihrer Nutzer mittels Selbstdeklaration, Nutzer müssen also selbst angeben, ob sie schon 18 Jahre alt sind. Doch diese Form der Alterskontrolle ist leicht zu umgehen. Daher fordern Jugendschutzverbände eine digitale Altersverifikation, um Minderjährige technisch vom Zugriff auf potenziell schädliche Inhalte sicher auszuschließen. Die Europäische Union hat diese Forderungen in mehreren Gesetzen aufgegriffen. Das Digitale-Dienste-Gesetz (DSA) etwa ist seit Februar 2024 vollständig in Kraft und enthält strenge Regeln zum Schutz von Minderjährigen im Internet. Das Regelwerk gilt für die gesamte EU und legt sehr großen Online-Plattformen und Suchmaschinen mit monatlich mehr als 45 Millionen Nutzerinnen und Nutzern innerhalb der EU klare Verpflichtungen zur Kontrolle auf. Die Idee ist simpel: Die Alterskontrolle funktioniert wie eine Schranke, durch die man nur hindurch gelangt, wenn man belegen kann, dass man alt genug ist. Das Problem: Die geplanten Alterskontrollen betreffen nicht nur Minderjährige, sondern alle Nutzer und Nutzerinnen von Online-Diensten. Sie könnten also ganz grundlegend ändern, wie Menschen das Internet nutzen und sich darin bewegen. Denn sie setzen voraus, dass Schranken aufgebaut werden, wo vorher keine waren, und Betreiber Zugänge regulieren. Damit betreffen sie gleich mehrere digitale Grundrechte, etwa das Recht auf Information, auf Privatsphäre und auf die ohnehin umstrittene Anonymität im Netz, befürchten Kritiker. Ein gutes System zur Altersverifikation müsse "datensparsam sein, niedrigschwellig in der Nutzung und transparent über die technischen Hintergründe" aufklären, sagt Elena Frense, Fachreferentin für Medien und Digitales beim Deutschen Kinderschutzbund im Gespräch mit dem KNA-Mediendienst - und das "auch in kindgerechter Sprache". Frense begrüßte die Vorgaben der EU, sagt aber auch, dass es auf dem Markt bislang kein Produkt gebe, das diese Kriterien wirklich erfülle. Zum einen greifen alle verfügbaren Lösungen der Online-Alterskontrolle in Grundrechte ein, weil sie personenbezogene Daten erfassen oder technische Hürden schaffen, die Nutzer von der Teilhabe ausschließen können. Um ihr Alter nachzuweisen, müssen Nutzerinnen und Nutzer etwa eine Einverständniserklärung unterzeichnen oder die Daten einer Kreditkarte oder eines Online-Zahlungssystems angeben. Weitere Methoden sind der Anruf bei einer gebührenfreien Nummer oder eine Verbindung per Videokonferenz. In manchen Fällen reicht es, eine Kopie ihres amtlichen Ausweises vorzulegen, der mit Daten in einer Datenbank abgeglichen werden kann. Einige Betreiber setzen darauf, ihren Nutzer wissensbasierte Fragen zu stellen, oder sie verwenden Technologie zur Gesichtserkennung, um das Alter einer Person zu schätzen. Auf Anfrage erklärt die Europäische Kommission, dass EU-Bürger ihr Alter online künftig mithilfe der eID, der Europäischen Digitalen Identität, nachweisen sollen. Die Idee ist, dass Bürger Ausweisdokumente aus ihrer digitalen Brieftasche, der sogenannten EUDI-Wallet, speichern und per Mausklick auf ihrem Telefon teilen können. Diese soll allerdings erst Ende 2026 zur Verfügung stehen. Als Ausweisdokumente könnten Bürger dann auch den Führerschein oder ihre Geburtsurkunde nutzen. Innerhalb der EU soll damit der Umgang mit Alterskontrollen erleichtert werden. Dabei seien Bürger nicht dazu verpflichtet, die EUDI-Wallet zu verwenden. Derzeit arbeitet die Kommission laut Anfrage an einer Übergangslösung, um die Alterskontrolle schon jetzt flächendeckend einzuführen. Diese soll nahtlos in die EUDI-Wallet übergehen, sobald das System bereitsteht. Ziel sei es, eine Lösung zu entwickeln, mit der das Alter überprüft werden kann, ohne weitere personenbezogene Daten zu erfassen. Die Pläne der Kommission hält auch Frense vom Kinderschutzbund für sinnvoll. Sie fordert allerdings, es müsse noch weitere Verifizierungsmöglichkeiten geben, um nicht Personen von digitaler Teilhabe auszuschließen, die keine Ausweispapiere haben. Denn auch wenn die Nutzung der digitalen Brieftasche freiwillig ist: Wenn Online-Angebote sie als einziges Mittel zur Altersverifikation akzeptieren, kommen die Bürger kaum daran vorbei. Damit benennt Frense ein wesentliches Problem bei der Suche nach Lösungen zur Alterskontrolle: Die eine technische Lösung zur grundrechtskonformen Altersverifikation könne es nie geben, erklärt der IT-Sicherheitsforscher Jan Tobias Mühlberg von der Universität Brüssel. Es müssten eine Reihe an Lösungen zur Verfügung stehen, da jede einzelne allein immer Menschen ausschließe, sagte Mühlberg dem KNA-Mediendienst. Bei der Gesichtserkennung seien alle die ausgeschlossen, die keine hochauflösende Kamera oder kein gut ausgeleuchtetes Arbeitszimmer hätten. Auch Menschen, die nicht lesen oder schreiben können, würden an Barrieren stoßen. Die Liste ließe sich beliebig lang fortsetzen. "Klar ist, dass hier gerade die Menschen als Nutzer von Online-Angeboten ausgeschlossen werden, für die gesellschaftliche Teilhabe sowieso schon schwierig ist", so Mühlberg. Insgesamt hält er die Frage nach einer technischen Lösung kaum für entscheidend. Die wichtige Frage sei vielmehr, "ob wir als Gesellschaft Alterskontrollen wirklich brauchen", sagt Mühlberg. Er sieht einen hohen technischen Aufwand und gravierende Auswirkungen auf die Grundrechte aller Internetnutzer, während kaum abzuschätzen sei, wie wirkungsvoll Alterskontrollen am Ende sind. Für den Schutz von Minderjährigen sei es viel wirkungsvoller, sich auf die Diensteanbieter zu konzentrieren, wie das etwa die Datenschutzgrundverordnung und der DSA tun. Sie sollen die Praktiken der Diensteanbieter regulieren und den Schutz der Privatsphäre der Nutzer verbessern. Betreiber von Glücksspiel-Websites oder Social-Media-Plattformen etwa würden laut Mühlberg potenziell schädliche Inhalte nach einem suchterzeugenden Design aufbereiten und dazu beitragen, dass nicht nur Kinder und Jugendliche abhängig werden. Das Problem betreffe die Gesellschaft als solche, unabhängig vom Alter: "Denn Glücksspiel oder Desinformation in Sozialen Medien bedrohen unseren gesellschaftlichen Zusammenhalt", so Mühlberg. Eine weitere Bedrohung sieht das Open Technology Institute des liberalen US-Thinktanks New America im sogenannten "chilling effect". Nicht nur könnten Alterskontrollen potenziell Einzelne daran hindern, ihre Meinung online frei zu äußern und mit anderen in Kontakt zu treten, heißt es in einer Studie von April 2024. Vielmehr könnten sie auch bewirken, dass Einzelne anfangen, sich selbst zu kontrollieren: Sie könnten aufhören, per Google oder Bing nach bestimmten Inhalten zu suchen, weil sie sich beobachtet fühlen. Damit würden sie auf ihr Recht auf Information verzichten. Problematisch sei zudem, dass der DSA nicht klar definiere, was jugendfrei ist und was nicht. Das birgt eine konkrete Gefahr: Um sicherzugehen, dass sie ihrer gesetzlichen Verpflichtung nachkommen, könnten Betreiber mehr Inhalte sperren als ursprünglich vorgesehen, so die Einschätzung der europäischen Nichtregierungsorganisation European Digital Rights (EDRi) in ihrem Positionspapier von Oktober 2023. Fachleute nennen diesen Effekt "Overblocking". Laut EDRi sei zu erwarten, dass die Plattformen dabei auf automatisierte Systeme setzen, die empfehlen, welche Inhalte zu sperren sind, und die die Inhalte breiten Kategorien zuordnen. Damit würden Inhalte erfasst, die nicht gesperrt werden sollten. Das sei bereits jetzt für viele legale LGBTQI+-Inhalte auf Social-Media-Plattformen der Fall. Die Studie des Open Technology Institute befürchtet, dass Alterskontrollen auf diese Weise marginalisierte Gruppen weiter ausgrenzen. Denn gerade sensible oder politisierte Themen wie Geschlecht, Sexualität, Ethnie und reproduktive Gesundheitsfürsorge könnten zur Zielscheibe von Altersbeschränkungen werden. Die Definitionslücke, was altersgerecht ist oder nicht, könnten Unternehmen auch in ihrem Sinne ausnutzen. Neben Eingriffen in die Privatsphäre und Verhaltensüberwachung sieht IT-Sicherheitsexperte Mühlberg weitere Risiken. Im Februar 2024 veröffentlichte er zusammen mit Martin Sas von der Katholischen Universität Löwen eine Studie im Auftrag der Grünen im EU-Parlament. Danach würden Alterskontrollen auch die Wahrscheinlichkeit von Datenlecks und Identitätsdiebstahl erhöhen. Zudem sehen sie die Gefahr des Dammbruchs: Auch Anbieter harmloser Inhalte und Dienste könnten nach und nach dazu übergehen, Altersverifikation einzuführen, um ihre Zielgruppen zu klassifizieren und dies kommerziell zu nutzen.

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