Ingolstadt (KNA) Noch Stunden vor der Abstimmung am Dienstag herrschte Unklarheit: Über Monate hatte eine von der CSU angeführte knappe Mehrheit im Stadtrat von Ingolstadt bei geheimen Beratungen im Ältestenrat signalisiert, dass man eine sofortige Aberkennung der Ehrenbürgerschaft des ehemaligen einflussreichen "Donaukurier"-Verlegers Wilhelm Reissmüller (1911-1993) ablehnen würde. Grüne, SPD, ÖDP, UWG und Linke hatten genau das in zwei Anträgen gefordert. CSU, FDP, FW und AfD wollte dagegen neue Erkenntnisse über seine NS-Vergangenheit, darunter Mitgliedschaften in mehreren NSDAP-Organisationen ab 1933 (NS-Studentenbund, SA und SS), jedoch offenbar trotz vorliegender Dokumente erst durch eine wissenschaftliche Studie bestätigt sehen. Das Institut für Zeitgeschichte (IfZ) begann die Arbeit über "Ingolstadt im Nationalsozialismus" Anfang 2025; frühestens 2028 soll ein Ergebnis vorliegen. Die Studie kostet die Stadt 430.000 Euro, die sie aufgrund einer Haushaltskrise und Einsparungen in vielen Bereichen rechtfertigen muss. Vermutlich deshalb hielten viele Stadträte an ihr als Entscheidungsgrundlage fest, um die Kosten für die Studie zu rechtfertigen. Doch Grüne, SPD, ÖPD, UWG und Linke hielten an ihrer Forderung fest - und das Ergebnis fielen am Dienstag überraschend deutlich aus: Mit nur einer Gegenstimme hat der Stadtrat Reissmüller die 1976 verliehene Ehrenbürgerwürde symbolisch aberkannt. Offenbar veränderte die Öffentlichkeit der lange geheim geführten Debatte die Dynamik. Am Ende schien sogar die CSU erleichtert. Oberbürgermeister Michael Kern (CSU) sagte am Tag danach: "Damit ist ein wichtiges Kapitel der Ingolstädter Erinnerungskultur vervollständigt." Grünen-Stadträtin Agnes Krumwiede, die das Thema über Jahre verfolgt hat und eine der ursprünglichen Antragstellerinnen war, sagte der KNA: "Ich bin erleichtert über die Entscheidung. Niemand darf mit der höchsten Ehrung einer Stadt in Verbindung gebracht werden, der die menschenverachtende Ideologie des Nationalsozialismus förderte und zudem seine Machtposition nach 1945 durch Lebenslügen aufbaute. Der ehemalige NSDAP- sowie spätere CSU-Oberbürgermeister Josef Listl und Wilhelm Reismüller gaben sich gegenseitig Persilscheine als Anti-Nazis. Bis vor kurzem zählten beide als ehrenwerte Bürger Ingolstadts. 80 Jahre nach der Befreiung wurde nun auch Dr. Wilhelm Reissmüller als Lügenbaron entlarvt." Die Entscheidung des Stadtrates markiere einen wichtigen Schritt bei der Auseinandersetzung mit der NS-Vergangenheit in Ingolstadt. "Diese Aberkennung sehe ich auch als späte Anerkennung für alle, die damals schon ahnten und zum Teil wussten, dass Reissmüller gelogen hat, was seine NS-Belastung betrifft. Die einiges aushalten musste für ihren Mut zur Wahrheit und deswegen von ihm nachhaltig beschädigt wurden", so Krumwiede. Gerd Bauz war einer der Geschädigten. Er war Student, als ihn Reissmüller wegen seiner Beteiligung an einer kritischen Broschüre, die viele unbequeme Wahrheiten über den damals mächtigen "Donaukurier"-Verleger enthielt, verklagte und er zu einer Geldzahlung verurteilt wurde. Bauz sagt heute: "Es ist kein Ruhmesblatt für den Stadtrat, wie er sich von drei Nazi-Größen nach dem Krieg noch 30 Jahre lang steuern ließ und dann 50 Jahre braucht, das einzugestehen. Dabei hat es an Hinweisen nie gefehlt." Denn auch Gerhard Reichert hatte bereits in den 1970er Jahren in einer engagierten Schülerzeitung Reissmüller NS-Belastung öffentlich gemacht - und war dafür später ebenfalls von diesem verklagt worden. Das Stadtrats-Urgestein Manfred Schuhmann (SPD) sagte vor der Abstimmung, ihm falle die Entscheidung leicht, weil er bereits 1976 als Stadtrat gegen die Verleihung der Ehrenbürgerschaft gestimmt habe: "Es war uns damals schon Einiges bekannt." Er fragte: Könne man Untaten im Dritten Reich mit Wohltaten nach 1945 aufwiegen? Die Antwort sei eindeutig, die Ehrenbürgerwürde hätte schon vor langer Zeit aberkannt werden müssen, so Schuhmann. Und auch SPD-Stadtrat Achim Werner, der einst in der Redaktion des Donaukuriers von Reissmüller arbeitete, meinte, im Lichte der neuen Erkenntnisse über Reissmüllers NS-Mitgliedschaften hätte ihm die Ehrenbürgerwürde nie verliehen werden dürfen. Es sei darüber hinaus auch fraglich, ob Reissmüller mit dem Wissen von heute von den Alliierten überhaupt eine Lizenz für die Herausgabe einer Zeitung bekommen hätte. In der Stadtratssitzung sagte Werner: "Wenn wir uns weiterhin hinter dem Gutachten verstecken, dann ignorieren wir das, was bislang schon bekannt geworden ist und zum Zeitpunkt der Verleihung noch nicht bekannt war. Es bleibt uns gar nichts anderes übrig. Wir können doch nicht einem aktiven Nationalsozialisten, der nicht Mitläufer war, sondern an wichtiger Stelle gewirkt hat, die Ehrenbürgerwürde belassen." Er bat darum, endlich diesen Beschluss zu fassen - auch, um "uns von einer unsäglichen Diskussion zu befreien". Diese Diskussion lief seit Jahren im Stadtrat, meist in geheimen Beratungen. Im Dezember 2022 erkannte Ingolstadt Adolf Hitler, dem früheren Reichspräsidenten Hindenburg und SA-Chef Ernst Röhm die Ehrenbürgerwürde ab, ebenso dem ehemaligen NSDAP-Oberbürgermeister Josef Listl. Die Linke hatte schon damals beantragt, wegen Reissmüllers bekannter Rolle als Verlagsleiter des NS-Blatts "Donaubote" bis 1945 auch ihm die Ehrenbürgerschaft abzuerkennen. Das lehnte der Stadtrat ab. An diesem Dienstag lief es anders. Zwar hatten die Vertreter von CSU, FDP, Freien Wählern und AfD wiederholt signalisiert, gegen den Antrag für die sofortige Aberkennung stimmen zu wollen. Doch am Ende kam die einzige Gegenstimme von Ingolstadts Alt-Bürgermeister Sepp Mißlbeck von der Unabhängigen Wählergemeinschaft (UWG). Er sprach von den karitativen guten Taten von Reissmüller und beantragte, auf das Ergebnis der IfZ-Studie zu warten. Doch das ging auch seinem Parteifreund Christian Lange (UWG) zu weit, der meinte, die karitativen und kulturellen Wohltaten Reissmüllers nach dem Krieg dürften nicht über dessen Rolle im NS-Staat hinwegtäuschen: "In diesem Fall muss ein Unrecht Unrecht genannt werden", so Lange. Auch CSU-Stadtrat Matthias Schickel, der stets als beharrlicher Gegner einer sofortigen Aberkennung galt, hatte Stunden vor der Entscheidung im "Spiegel" eine unerwartete Wende angekündigt. Die CSU gebe die bisherige Position auf und werde den Antrag auf Aberkennung unterstützen. "Es liegen inzwischen genug Belege für Reissmüllers NS-Nähe vor." Er erwarte nicht, dass das Gutachten bei Reissmüller wesentlich Neues hinzufügen könne. Und auch bei den Freien Wählern kam es noch vor der Abstimmung zu einer Wende der bisherigen Position. Charlotte Hermann-Janis lebt in Atlanta, Georgia. Sie ist Jüdin und die Tochter von Kurt Hermann, der mit seiner Familie 1938 aus Ingolstadt fliehen musste - zu einem Zeitpunkt, als Reissmüller bereits den NS-"Donauboten" leitete, der gegen Juden hetzte. Im Spätsommer 2022 war sie zu Gast in Ingolstadt, als dort eine Gedenktafel für ihre Familie enthüllt wurde. Den Empfang der Stadt, eine Begegnung mit Schülerinnen und Schülern, die in einem Projekt an ihren Vater Kurt erinnerten, und einen Abend im Barocksaal des Stadtmuseums, bei dem sie ihre Familiengeschichte erzählen konnte - all das hat sie in guter Erinnerung. Sie könne jedoch nicht verstehen, schrieb sie Tage vor der Abstimmung auf Anfrage der KNA, dass Ingolstadt Reissmüllers Ehrenbürgerschaft nicht umgehend aberkenne. Angesichts der eindeutigen Belege sei sie geschockt. Als sie am Tag nach der Entscheidung von der fast einstimmigen Aberkennung erfuhr, schrieb sie, es mache sie stolz, dass die Ingolstädter die Wichtigkeit dieser Maßnahme erkannt hätten. "Reissmüller hat diese Ehre nicht verdient!"