Berlin (KNA) Ende Mai hatte der Bundeskanzler klare Kante gezeigt: "Das ist eine menschliche Tragödie und eine politische Katastrophe", sagte Friedrich Merz (CDU) zur Situation in Gaza und dem Agieren der israelischen Armee beim Europaforum des Westdeutschen Rundfunks auf der Republica in Berlin. Merz erklärte, er verstehe "offen gestanden" nicht mehr, "mit welchem Ziel" Israel in Gaza vorgehe. "Wenn Grenzen überschritten werden, wo einfach das humanitäre Völkerrecht jetzt wirklich verletzt wird, dann muss auch der Bundeskanzler etwas dazu sagen", sagte Merz und versicherte gleichzeitig, dass er sich der deutschen Geschichte und des besonderen Verhältnisses zu Israel bewusst sei und entsprechende Kritik "angemessen" geäußert werden müsse. Diese "Ansage" des Kanzlers hatte auch umgehend Auswirkungen auf die mediale Berichterstattung über den Krieg, sagt die Medienwissenschaftlerin Nadia Zaboura dem KNA-Mediendienst - allerdings in unterschiedlicher Ausprägung. "Gerade der öffentlich-rechtliche Nachrichtenjournalismus bleibt meiner Beobachtung und Analyse nach weiterhin in der gleichen Tonalität, Einseitigkeit und Auslassungen wie schon in den knapp 20 Monaten zuvor. Das ist besonders problematisch, weil Formate wie die ARD-'Tagesschau' und ZDF-'Heute' die Flaggschiffe der jeweiligen Sender sind und auch die höchsten Reichweiten haben." Bei anderen Medien lasse sich dagegen schon beobachten, "dass sich die Tonalität ändert, in dem ein anderer, erweiterter Fokus gelegt wird", so Zaboura: "Nicht immer nur auf das, was die eine Kriegspartei sagt, ohne dann meistens auch die Position der anderen Partei zur Sprache zu bringen. Jetzt werden endlich auch die umfassenderen und größeren Zusammenhänge für ein komplexes Verständnis der Vorgänge wieder - oder vielleicht auch teilweise erstmals - ins Zentrum der Berichterstattung gerückt." Zudem würden nun auch die Politik der deutschen Regierung, die deutliche Differenz zwischen ihrem politischen Reden und Handeln sowie daraus erwachsende Auswirkungen auf Sicherheit und Zukunft der Deutschen Gesellschaft kritischer hinterfragt. Zu den größeren Zusammenhängen gehört für die Nahost- und Medienexpertin vor allem die Berücksichtigung des schon immer angespannten Verhältnisses zwischen Israel und Palästina sowie den verschiedenen Vertretern und Strategien auf beiden Seiten des jahrzehntelangen Konflikts. "Mit Blick auf den journalistischen Informationsauftrag reicht es nicht, den Anschlag der Hamas am 7. Oktober 2023 als den Beginn der Geschichte zu definieren, dabei die zentrale historische Dimension, die daraus erwachsende Asymmetrie der verschiedenen Akteure und völkerrechtliche Verpflichtungen auszublenden und sich damit journalistisch selbst einzuschränken", sagt Zaboura. Anders argumentierte kurz nach der Intervention von Merz Axel Springer-Vorstandschef Mathias Döpfner. Der gelernte Journalist, der in "Bild" und "Welt" ab und an auch selbst das Weltgeschehen kommentiert, hatte im ARD-Polittalk "Maischberger" am 27. Mai gesagt, er sei wie der Bundeskanzler angesichts der Bilder und Nachrichten aus Gaza "sprachlos, es ist kaum erträglich. Es muss aufhören, aber auf der anderen Seite müssen wir auch zur Kenntnis nehmen, dass dieser schreckliche Krieg am 7. Oktober begonnen hat, durch einen fürchterlichen Terroranschlag." Genau dieser enge Fokus sei "über viele Monate in der Breite der Medienberichterstattung, insbesondere im deutschen Nachrichtenjournalismus" angewendet und durchgehalten worden, kritisiert Zaboura - wobei auch hier gelte: "Ausnahmen bestätigten die Regel." Es brauche aber "eine Weitwinkel-Perspektive", die "auch eine angemessen komplexe Informationsvermittlung des Geschehens zulässt und damit dem Medienpublikum überhaupt erst verständlich zeigt, wie die Situation im Hier und Jetzt, aber auch historisch zu verstehen ist - und welche Auswege aus der systemischen Gewalt führen". Denn es geht, auch wenn die deutschen Medien dies immer wieder darstellten - "hier nicht um einen rein religiös begründeten Konflikt", sagt Zaboura und weiß sich hier einig mit Nahost-Spezialisten wie dem Politologen und Kommunikationswissenschaftlers Kai Hafez von der Universität Erfurt. Andere Perspektiven seien bislang aber eher unterbelichtet geblieben. Hier nennt Zaboura die "territoriale Dimension" und die "völkerrechtliche Position", wobei vor allem letztere durch die Merz-Intervention jetzt stärker in den Fokus geraten sei: "Diese beiden anderen Deutungsachsen, die in der internationalen Medienberichterstattung schon immer deutlich stärker aufgegriffen wurden als bei uns, kommen nun langsam auch in weiteren Teilen des deutschen Journalismus an, als bisher zu beobachten war." Das habe - bei aller Pressefreiheit und Positivbeispielen - mit Blick auf die Forschungslage möglicherweise auch mit dem Wandel in der Haltung der Bundesregierung allgemein und beim Bundeskanzler ganz direkt zu tun, sagt Zaboura: "Auffällig ist, dass die bisherige Zurückhaltung der vergangenen sowie der aktuellen Bundesregierung mit Blick auf Israel und die deutsche Vergangenheit sowie fortgesetzte Doppelstandards in der politischen Beurteilung von Völkerrechtsbrüchen, auch medial teils zurückhaltend reportiert, diskutiert und in ihren Auswirkungen analysiert wurden." Wenn Merz nun zu einem einzelnen Anlass einen Kurswechsel vollziehe, Israel kritisiere und Forderungen stelle, "zeigt sich auch in deutschen Medien in gewissem Umfang eine Veränderung - auch wenn die aktuellen Geschehnisse in puncto Israel und Iran hier wieder für einen Rückfall in alte mediale Muster zu sorgen scheinen", so Zaboura. Döpfner hatte bei Maischberger noch gesagt, ob man "Politik und Haltung ändert, hat mit unserer Geschichte und einer größeren, in die Zukunft gerichteten außenpolitischen Ratio zu tun". Die "einzige, sicher nicht perfekte Demokratie in der Region" zu unterstützen, sei für ihn aber "ein Gebot der Staatsräson". Daher stehe bei Axel Springer auch der zweite Unternehmensgrundsatz "Wir unterstützen das jüdische Volk und das Existenzrecht des Staates Israel" in keiner Weise zur Disposition. "Forschungsarbeiten zum Verhältnis von Medien und Außenpolitik zeigen, dass gerade Nachrichtenorganisationen dazu neigen, die politischen Präferenzen der eigenen Regierung widerzuspiegeln und sich an den Ansichten der politischen Akteure und Systeme zu orientieren", sagt Zaboura und verweist auf entsprechende US-amerikanische Untersuchungen. Dieser Befund könne eine "Erklärung von vielen dafür sei, weshalb es bei vielen deutschen Medien so lange gedauert hat, sich aus dem Orientierungskorridor zu lösen, indem sie sich selbst verhaftet hielten - und es teils auch heute noch tun". Wichtig sei daher ihrer Meinung nach nun "eine transparente Selbstprüfung deutscher Medien, eine Rückbesinnung auf das Handwerk sowie ein Journalismus, der die zivilisatorischen Errungenschaften des Völkerrechts, der Gleichheit und der Menschenwürde wieder konsequent zurück in das Zentrum der Medienproduktion rückt", sagt Zaboura.