Hamburg (KNA) Wo ist Michael Mittermaier? Die Schlange vor der Neuen Flora ist erstmals seit einer Stunde von 100 auf 30 Meter abgeschwollen, da wird das Sicherheitspersonal langsam nervös. Nochmal: Wo ist Michael Mittermaier? Die streng gescheitelte Security-Kraft spricht jetzt resoluter ins Funkgerät. Dann folgt Erlösung: "Michael Mittermaier biegt gleich rechts ein", sagt sie mit einer Ernsthaftigkeit, die auch Kanzler und Päpste ankündigen könnte. Fünf Minuten später läuft der Comedian dann endlich das Spalier der 30 Fotografen ab, die sich an einer Werbewand im Hamburger Musical-Theater platziert haben. Seit seiner Premiere vor 15 Jahren wird der Deutsche Radiopreis stets in Hamburg verliehen. Dort sorgt er für einen Rummel, den die pragmatische Kaufmannsstadt weit seltener erlebt als, sagen wir, München oder Berlin. Michael Mittermaier ist schließlich nicht der Einzige A-Promi auf dem Roten Teppich vor den Logos von PR-Partnern wie Deutschlandradio und Bauhaus, ARD-Media und der Vereinigten Lohnsteuerhilfe. Er ist nur der so ziemlich letzte, bevor ein dritter, finaler Gong die 1000 festlich, nein, prächtig gekleideten Gäste von Sekt und Smalltalk zu Preisträgern und Showacts beordert. Aus nahezu 500 Einreichungen von mehr als 150 Sendern wurden 61 Nominierte in zehn Kategorien vorsortiert, bevor Stars wie Mittermaier die Sieger verlesen. Bei Kunstlicht betrachtet, sind die aber gar nicht das Wichtigste in dieser lauen Septembernacht zwischen dem Wohnquartier Altona und dem Partyrevier St. Pauli. Bedeutender ist die selbstbewusste Feier eines totgesagten Mediums. Oder wie es Thorsten Schorn in seiner Begrüßungsrede ausdrückt: das "Survival of the Fittest". Damit bezeichnete der Sozialphilosoph Herbert Spencer einst den Überlebenskampf in freier Wildbahn urwüchsiger Umgebungen. In der freien Wildbahn medialer Umgebungen hat ihn das Radio gut 160 Jahre später tatsächlich gewonnen. Irgendwie. Gegen Fernsehen, Video, Internet, Streamingdienste und demnächst womöglich gar Künstliche Intelligenz, von der hier ständig die Rede ist. Das ist schon einen "Radio-Oscar" wert, wie der sehr launige Ko-Moderator Schorn die kommenden drei Stunden bezeichnet, bevor sie die sehr laute Hauptmoderatorin Katrin Bauerfeind zum "Grammy des Radios" hochjazzt. Für den sehr hanseatischen Bürgermeister ist das ein wenig viel Glamour. In seiner Eröffnungsrede hebt Peter Tschentscher (SPD) lieber die Bedeutung seriöser Kulturangebote fürs Miteinander hervor. Als ihn der Saal dafür mit Gejohle verabschiedet, das selbst für SPD-Parteitage zu donnernd wäre, wird spätestens klar: Heute will sich die Branche mal bedingungslos feiern. Während Worte wie "Dudelfunk", "Formatradio" oder "Standortbeweihräucherung" knappe drei Stunden auf dem Index stehen, fallen solche wie "mega", "geil" oder "herausragend" fast im Minutentakt. Gut, Preisverleihungen sind keine Proseminare. Aber wie sehr die Radio-Welt im eigenen Saft schwimmt, merkt man stets, wenn die Verkündung aller Prämierten je zwei, drei Dutzend Kollegen und Freunde in Ekstase versetzen. Etwa fürs "Beste Entertainment" von Henry Nowak und Steffen Lukas, die beim sächsischen Radio PSR große Hits auf gewöhnliche Jobs umtexten. Als ihnen das rundfunkerfahrene Model Lola Weippert dafür einen Plexiglaspokal überreicht, ist die Stimmung zwar nicht ganz so entfesselt wie beim anschließenden Auftritt des schottischen Superstars des Abends, der Singer-Songwriterin Amy MacDonald. Trotzdem ist das Publikum jederzeit zum Ausrasten bereit - ob in der Kategorie "Beste Programmaktion" irgendwas mit Kindern gewinnt, ZDF-Moderator Mitri Sirin vor seiner Ankündigung der "Besten Informationsformate" nebelumwabert aus dem Boden fährt oder die bodenlos sympathische Podcasterin Eva Schulz einen MDR-Kollegen für seine Truckerinnen-Reportage prämiert. Und als das Girl-Band-Relikt "Sugababes" die Anwesenden zwischendurch kurz in sorglosere Zeiten vor 9/11, AfD und Ukraine-Krieg singt, beginnen zwei Dutzend Gala-Gäste sogar vorm samtroten Gestühl zu tanzen. Nicht, dass ernste Themen außen vor blieben. In jeder zweiten Dankesrede wird die Bedeutung journalistischen Radio-Entertainments für Gesellschaft, Pluralismus und Demokratie betont. Als frisch gekürte Moderatorin des Jahres weist Amy Scheske (delta radio) auf ihre Angststörung hin und erntet auch dafür donnernden Applaus. Das "Familientreffen", von dem Deutschlandradio-Intendant Stefan Raue spricht, ist ein vielschichtiges, vielgesichtiges. Dennoch dient auch diese Branchentrophäe vor allem der Selbstbeweihräucherung. Influencer der Generationen Z bis Alpha influencen daher, dass sich die Buffalo Boots biegen. Die Sketche des Moderationsduos dienen wie üblich nicht der Belustigung, sondern der Erweckung saalübergreifenden Fremdschams. Und wer meint, Bühnenerfahrung qualifiziere automatisch zur unterhaltsamen Laudatio, hält den banalen Befindlichkeitspoeten Bosse vermutlich auch für Bob Dylans Enkel. Das ändert aber nichts am seriösen Grundton eines wertschätzenden Preises, den die vom Grimme Institut berufene Jury mit größtmöglicher Sachlichkeit verleiht. Dazu passt dann letztlich auch die kratzige Neopop-Künstlerin Nina Chuba als finaler Showact. Und natürlich der leicht verspätete, grundsätzlich haltungsgetriebene Comedian Michael Mittermaier. "Radio ist der längstlaufende Podcast der fucking Welt", brüllt er am Ende seiner kleinen Stand-up-Einlage ins voll besetzte Auditorium, das sich in einem Jahr wohl abermals an gleicher Stelle füllen wird. Um sich in dunkler Zeit mal selbst zu zelebrieren. Das ist auch und gerade im Mainsteam formatierter Dudelfunker legitim. Und ein bisschen tröstlich.