Bonn (KNA) Smalltalk auf Partys oder im Büro ist für introvertierte Menschen oft ein wahrer Horror. Im Chat werden einige von ihnen allerdings zu sprudelnden Konversationskünstlern. Dieses Phänomen hat inzwischen einen eigenen Namen: Betroffene bezeichnet man als "textrovertiert". Die digitale Kommunikation verschiebt Schamgrenzen und Hemmschwellen. Das hat Vor- und Nachteile, weiß Kommunikationsexpertin Sylvia Löhken. Sie hat bereits mehrere Bücher über die Unterschiede zwischen Intro- und Extravertiertheit veröffentlicht und coacht insbesondere introvertierte Führungskräfte. "Im Chat kommt es zu keiner direkten Konfrontation", erklärt Löhken. "Die Unterhaltung verläuft immer asynchron, und so bleibt Introvertierten Zeit zum Überlegen, bevor sie eine Antwort geben. Das reduziert die Reizstimulation und gibt ihnen mehr Sicherheit - schafft also intro-gerechtere Bedingungen." Chats, SMS oder E-Mails stellten eine persönlichkeitsgerechte Kommunikationsform für sonst eher leise Menschen dar. Aber was bedeutet überhaupt introvertiert? Der Duden definiert es so: auf das eigene Seelenleben gerichtet, nach innen gekehrt; verschlossen. Offizielle Zahlen oder Statistiken gibt es dazu nicht - ebenso wenig wie eine trennscharfe Definition. Entsprechend ergab eine Umfrage des Meinungsforschungsinstituts YouGov Deutschland aus dem Jahr 2019, dass rund 31 Prozent der Befragten sich selbst als introvertiert und 25 Prozent als extravertiert bezeichnen würden. Der Rest - also knapp die Hälfte der Befragten - sieht sich als eine Mischung aus beidem. Grundsätzlich gebe es zwischen den Kommunikationstypen drei große Unterschiede, erklärt Expertin Löhken. Zunächst gebe es deutliche Abweichungen bei den Themen Risikomanagement und Ruhebedürfnis. Prägend für die menschliche Kommunikation sei vor allem die unterschiedliche Reaktion auf Stimulation von außen. Während für den Extravertierten gelte "je mehr, desto besser", fühle sich die Introvertierte schnell überfordert. Zu viele Eindrücke seien für introvertierte Menschen eher belastend. "Auch deshalb wählen Letztere gerne die Chatalternative - bevorzugt zum konfrontativen realen Gespräch." Aus ihrer Coachingerfahrung weiß Löhken: Leise Menschen haben oft gute Ideen, die einfach nicht gehört werden. In Diskussionen trauten sich introvertierte Persönlichkeiten oft nicht, ihre Meinung kundzutun. Ein Gruppenchat eröffne ihnen ganz andere Möglichkeiten. Aber geht dadurch nicht der persönliche Kontakt und das Miteinander verloren? Grundsätzlich nein, sagt die Wissenschaftlerin. "Wenn wir chatten, kommunizieren wir nicht wie in einer formalen E-Mail oder in einem Brief. Wir schreiben so, wie wir auch sprechen würden - umgangssprachlich und mit Abkürzungen." Außerdem ermögliche die digitale Unterhaltung, jederzeit und von überall in Verbindung zu sein. Das biete einen großen kommunikativen Mehrwert. Problematisch werde es dann, wenn die digitale Welt von der analogen Realität ablenke. "Ich beobachte oft Paare, die sich gegenübersitzen und währenddessen auf ihr Handy starren. Darunter leidet nicht nur deren Beziehung, sondern generell unsere Konversationskultur enorm", sagt Löhken. "Wenn wir uns im realen Gespräch nichts mehr zu sagen haben, weil wir lieber in den vermeintlich sicheren Chatraum ausweichen, dann ist das auch für Introvertierte keineswegs hilfreich für Beziehungen." Weiterhin Sorge bereitet ihr auch die Tatsache, dass Kinder durch die permanente Chatkommunikation bereits verlernten, die Mimik anderer Menschen zu lesen. Diese Folge einer Kultur des - auf das Smartphone - gesenkten Blicks wird seit einiger Zeit von Fachleuten beschrieben. Dessen sollte sich eine chataffine, zunehmend textrovertierte Gesellschaft bewusst sein - und aktiv entgegenwirken.