Mainz (KNA) Wie viele Jahre Abstand bestehen zwischen einem Gespräch über das Onanieren und der Evaluation von Entwicklungspolitik? Überraschung! 60 Jahre - und zwar in dieser Reihenfolge! Im Oktober 1965 sprachen in der ZDF-Kultursendung "aspekte" der Schriftsteller Günter Grass und der Moderator und Redaktionsleiter Walther Schmieding über das Motiv der Selbstbefriedigung in Grass' Roman "Katz und Maus". Der Autor wurde von Konservativen schwer angefeindet, Grass sprach von einem "politischen Prozess". Erst kurz zuvor, am 17. Oktober 1965, war "aspekte" im ZDF auf Sendung gegangen und sorgte gleich für Aufmerksamkeit. 60 Jahre später, am 26. September 2025 "Entwicklungshilfe - wem nützt sie wirklich?" auf dem Programmzettel: Keine Studiosendung, sondern eine Kulturreportage mit zahlreichen Gesprächspartnern. Zwischen der schwarz-weißen Ausgabe in der kargen Kulisse von 1965 und der bildgesättigten aktuellen Folge stecken 60 Jahre bemerkenswerter Kultur- und Fernsehgeschichte, die "aspekte" im Programm des Zweiten Deutschen Fernsehens erzählt. Was im Untertitel 1965 mit "Informationen und Meinungen aus dem Kulturleben" im zweiwöchentlichen Ausstrahlungsrhythmus gestartet war, bemühte sich zunächst um einen Zugang zu Theater, Musik, Kunst, Literatur, Kino und Kulturpolitik. Der Rahmen und Maßstab damals war klar die Hochkultur. So wurde vor allem bürgerliche Kulturkritik zelebriert, aber dabei sollte es nicht bleiben. Als der vormalige "Spiegel"- und "Stern"-Redakteur Reinhart Hoffmeister 1969 Leitung und Moderation der Sendung übernahm, löste sich die Sendung vom traditionellen Kunstverständnis und wandelte sich - als Kind seiner Fernsehzeit - zum politisierten Magazin. Hoffmeister behandelte Themen, die bis dahin nicht ins Kulturressort fielen: antiautoritäre Erziehung, Badesport, Jugendrebellion, Medienkritik, Sexwelle und Denkmalschutz. Fans und Feinde dieses Debatten-Feuilletons fanden im Februar 1974 zusammen, als der Schriftsteller Gerhard Zwerenz in der Sendung behauptete, beim Häuserkampf in Frankfurt habe die Polizei Inhaftierte gefoltert. Hoffmeister wurde fristlos vom ZDF gekündigt, dann aber auf öffentlichen Druck hin wieder eingestellt. Die von Zwerenz behaupteten Menschenrechtsverletzungen erwiesen sich als wahr, die beteiligten Polizeibeamte wurden verurteilt. Und "aspekte" hielt Kurs, der schon geöffnete Kulturbegriff wurde weiter und weiter gedehnt. Thema wurde, was die Redaktion zum Thema erklärte. Die Gästeliste war enorm prominent, wer in der Kulturszene etwas zu sagen hatte und etwas gelten wollte, versagte sich einer "aspekte"-Anfrage nicht. Was kann eine wöchentliche Kultursendung, die immer wieder ihren Ausstrahlungstermin und ihre Länge - anfangs 30, heute 45 Minuten - wechseln musste, erreichen? Sie muss für das zu interessierende Publikum Aspekte promovieren, die Akzente setzen. Mehr als eine Million Zuschauerinnen und Zuschauer lassen sich aktuell in der Mediathek oder bei der linearen Ausstrahlung von einem Thema überraschen. Nicht länger als eine Einstiegsdroge in die kulturelle Sinnstiftung, dafür als Anstiftung zum komplexen Nachdenken. Redaktionsleiter und Moderatoren wie Walther Schmieding, Dieter Schwarzenau, Hannes Keil, Wolfgang Herles, Moderatorinnen wie Manuela Reichart, Carola Wedel und Luzia Braun haben das Magazin geprägt. Das aktuelle Moderatoren-Trio Katty Salié, Jo Schück und Salwa Houmsi wollte gar nicht in deren Fußstapfen treten, sondern neue Wege gehen. Ein 1:1-Interview mit Herbert Grönemeyer über 45 Minuten und Aufzeigen, was und wo der (kulturelle) Kitt, respektive Riss in dieser Gesellschaft ist. Schmunzeln, Staunen, Eskalieren, Informieren inbegriffen. Über die 60 Jahre hinweg hat "aspekte" auch auf das umliegene Programm ausgestrahlt: Es gab Spin offs wie "aspekte extra"; die spektakulärste Ausgründung war wohl "Das Literarische Quartett", mit dem Marcel Reich-Ranicki von 1988 an wenigstens hier mit dem Fernsehen seinen Frieden schließen konnte. Im Anschluss rückte bis 2015 Magazinchef Wolfgang Herles "Das blaue Sofa" an die Stelle, ehe "Das Literarische Quartett" seine Wiedergeburt erlebte. Seine Bewegungsfreiheit konnte und kann "aspekte" auch wegen der "Kulturzeit" bei 3sat, die werktäglich um 19.20 Uhr Kunst und Kultur im deutschsprachigen Raum beackert, so formidabel behaupten. Bei der "Kulturzeit" wird Basisarbeit geleistet, wo sich "aspekte" in deutlich luftigeren Höhen bewegen darf. Aber "aspekte" ist weicher, eleganter, multilateraler, seine ästhetischen Maßstäbe in Bild und Ton ungleich höher. ZDF-Programmdirektorin Nadine Bilke stellt zu Recht fest: "Eine sich rasant verändernde, komplexer werdende Medienlandschaft erfordert einen wachen Blick für die eigene Positionierung. Diesen wachen Blick hat 'aspekte' im Wandel der Zeiten immer wieder bewiesen." Und so hat sich "aspekte" immer wieder gehäutet. Was als Hochamt der Hochkultur begann, Prominenz wie Goya und Walser, Netrebko und Coelho versammelte, Filmfestspiele und Biennale in Venedig beleuchtete, Schwerpunkte bei der Buchmesse in Frankfurt bildete, wurde offener, freier, immer im Bewusstsein, dass Kunst und Kultur Gradmesser für den Zustand der Gesellschaft sind - und gelegentlich Unterhaltung der geeignete Treibriemen für den Thementransport. Redaktionsleiter Daniel Fiedler sagt, "Wer über Kultur spricht, spricht über sich und über unsere Welt. Gerade aktuell merken wir doch, dass politische Diskussionen oft Kulturfragen berühren und manchmal sogar Kulturkämpfe sind. Die Debatte um Regenbogenflaggen, um Antisemitismus oder Genderidentitäten - all das sind letztendlich kulturelle Fragen." Aber auch dürfe die kulturelle Bildung nicht übersehen werden. Wieder Fiedler: "Wer ins Theater geht, in die Oper, ins Kino, ins Museum oder wer ein Buch liest - der versetzt sich in jemand anderes hinein, lernt so Empathie, lernt so: Mensch zu sein." Im Insgesamt der Kulturmagazine im Fernsehen ist "aspekte" ein sehr eigenes, vom ZDF bewusst und mit Stolz getragenes Programmelement. Es muss um seine Fortexistenz nicht fürchten. Zugleich muss es bemüht sein, stets mehr als eine Million Zuschauerinnen und Zuschauer zu erreichen, die sich von einem Thema überraschen lassen. Am 3. Oktober um 0.35 Uhr fasst die Jubiläums-Doku "Kultur, Krawall und Klassiker" bemerkenswerte Momente der "aspekte"-Geschichte zusammen, die Abenteuer einer Sendung quer durch den deutschen Kulturjournalismus und die deutsche Fernsehlandschaft.