Bonn (KNA) Von der ersten Sekunde an ist sehr offensichtlich, worum es in dieser neuen ARD-Serie geht - und warum die filmische Umsetzung aus Jugendschutzgründen nicht geeignet ist für unter 16-Jährige. Weshalb "Naked" linear in die tiefe Nacht des Ersten Programms verbannt werden muss. Zu sehen ist, wie ein Paar in Leidenschaft umschlungen durch die Wohnungstür stürzt und es gerade noch bis zum Sofa schafft, um übereinander herzufallen. Die Kamera saugt sich an den nackten Tatsachen fest, an Lippen, Augen, Gliedern. Auch wenn sie vor allzu aufregenden Details stoppt, fragt man sich schon: Ist das der Beginn eines öffentlich-rechtlichen Pornos, oder was? Am Serientitel "Naked" gibt es tatsächlich nichts falsch zu verstehen. Die bei saftigen Szenen am Set seit einigen Jahren übliche Intimacy-Koordination hatte ordentlich zu tun (in personam: Philine Janssens), ebenso die Kamera von Julian Krubasik, dass im miteinander Agieren und auch ästhetisch nichts verrutscht. Headautorin Silke Eggert verarbeitet in sechsmal 50 Minuten eigene Erfahrungen, als Angehörige. Es geht um Sexsucht und was das mit Betroffenen und deren persönlichen Umfeld macht. Der WDR als auftraggebende ARD-Anstalt holt das Thema aus der Schmuddelecke, in der sonst fleißig der Boulevard buddelt (und dokumentarisch auch schon mal das ZDF). "Naked" sei die erste deutsche fiktionale Serie, die sich mit der Lust, die zur Last wird, ernsthaft befasse. Soweit die Programm-PR. Es mag sogar stimmen. Hypersexualität, so der medizinische Fachbegriff, ist seit 2019 eine von der WHO offiziell anerkannte Krankheit. Und als solche wird sie auch in "Naked", bei aller bildintensiven Frivolität, mit bildungsfernsehenhafter Ernsthaftigkeit behandelt. Die Handlung in Kürze: Marie, Kunstlehrerin und alleinerziehende Mutter, lernt in einer Kostümpartynacht den alleinstehenden Werber Luis kennen. Sie, die Nonne, er, der Dracula: Es ist Liebe auf den wortwörtlich ersten Biss. "Möchte die heilige Maria Mutter Gottes gebissen werden?", fragt er sie - als Anmache: nicht unkreativ. Marie ist sofort verliebt. Luis irgendwie auch, aber er hat Druck. Der für Marie atemberaubende Sex, der die Grenze zur Vergewaltigung aus ihrer Sicht erstmal nicht überschreitet, sondern einfach nur "hot" ist, reicht Luis nicht aus. Er hat sexuelle Fantasien, er will immerzu Sex. Und er holt ihn sich auch woanders, bei der Ex, bei Prostituierten, auf der Toilette mit sich allein. Den psychopathischen Aufschrei des Helden setzt Regisseurin Bettina Oberli in hypnotischen, obsessiven Bildern um. Was Zuschauenden sofort ins Auge sticht, schwant Marie erst nach etlichen Irritationen, wozu auch die Anzeige von Luis' Affäre wegen sexueller Nötigung gehört: Ihr hotter Typ hat ein ernstes Problem. Sie damit aber auch. Sie wird zur Co-Abhängigen. Nach einer Grenzüberschreitung im Treppenhaus führen Maries Schoßgebete das Paar in Folge drei in die Praxis einer Sexualtherapeutin. Das Personal, das die Serienmacher vor der Kamera zusammenscharen, ist bis in die kleinste Nebenrolle klangvoll bis überraschend. Oder wäre jemand auf Anhieb auf die Idee gekommen, die Rolle der Therapeutin mit der hauptsächlich in RTL-Daily-Soaps spielenden Chrysannthi Kavazi zu besetzen? Oder Aurel Mertz aus der Comedy-Schublade zu holen, um sich erstmals im ernsten Fach als besorgter Vater von Maries Sohn Santos auszuprobieren? Mit Juliane Köhler als Maries Mutter Merle und Karl Markovics als Luis' Vater Golo sind Star-Routiniers am Werk, die aber den Rahmen ihrer Möglichkeiten nicht verlassen (dürfen). Denn all eyes are on: Svenja Jung und Noah Saavedra. Zugegeben, die aquamarinfarbenen Augen der beiden Hauptdarsteller, immer schön im Close-Up präsentiert, entfalten magnetische Wirkung. Ihre Sogkraft reißt einen mit in die Liebes- und Leidensfähigkeit der beiden Charaktere Marie und Luis, die "einerseits so suchend, so willig und dennoch immer wieder so zerrissen zwischen Paradies und verschlingendem Abgrund" sind. So formuliert es die für "Naked" zuständige WDR-Redakteurin Caren Toennissen. Auch das: nicht unkreativ formuliert. Trotzdem und bedauerlicherweise: Das mit der Ernsthaftigkeit wird in der Serie überstrapaziert. Man wähnt sich zeitweilig fast schon in einem juristischen Proseminar, wenn etwa Luis' Anwalt über die Novellierung des Sexualstrafrechts doziert: Es sei "verschlimmbessert" worden und mache seine Arbeit nicht einfacher; dazu überall nur die Rede von toxischer Männlichkeit - die jungen Männer seien doch alle "total verloren". Regelrecht akademisch akribisch sind Luis' Therapieschritte in Szene gesetzt; im Sinne des Heilungsprozesses wird ihm bei den Anonymen Sexsüchtigen zu 90-tägiger sexueller Nüchternheit geraten. Spoiler: An Tag elf ist es damit schon vorbei, obwohl sich Luis mit Geschichts-Dokus über das Dritte Reich ablenkt, denn, so erklärt er es der verdatterten Marie: "Hitler ist der einzige, von dem ich keinen Ständer bekomme." Und dann schlägt "Naked" in den Nebensträngen auch noch den ganz großen gesellschaftspolitischen Bogen, angefangen bei den von Marie unterrichteten Jugendlichen, die dem Druck ständiger Verfügbarkeit von Sex im Netz ausgesetzt sind, bis zu den psychischen Problemen, die Luis' Bruder vor dem Coming-Out plagten. Ein (ARD-obligatorischer) Crime-Plot rund um die polizeiliche Anzeige gegen Luis wird der Story ebenfalls noch untergejubelt. Die nackte Wahrheit ist: Etwas weniger Porno aus didaktischen Ausrufezeichen hätte "Naked" gutgetan.