Straßburg (KNA) Durch Manipulationen der Stimmenabgaben setzte sich der belarussische Autokrat Lukaschenko 2020 gegen die Herausforderin Swetlana Tichanowskaja durch. Ihr Streben nach freien Wahlen und Rechtsstaatlichkeit wurde so im Keim erstickt - obwohl sie breite Teile der Bevölkerung mobilisiert hatte. Nun begleiten der US-Amerikaner Mike Lerner, bekannt für "Pussy Riot: A Punk Prayer" und der Brite Martin Herring, der die Dokureihe "Afghan Star" produzierte, in ihrem Film die belarussische Oppositionspolitikerin, die zu einer Heldin wider Willen avancierte. Doch danach sah es zunächst nicht aus. "Mein Traum war es, eine gute Mutter für meine Kinder zu sein. Aber jetzt führe ich einen Kampf gegen den letzten Diktator von Europa", sagt Swetlana Tichanowskaja. Dazu kam es, weil ihr Ehemann Sergej Tichanowski, erfolgreicher Geschäftsmann und populärer Blogger, am 29. Mai 2020 verhaftet wurde - nur wenige Tage vor der Frist zur Einreichung seiner Kandidatur für die Präsidentschaftswahl 2020. Als Tichanowskaja für ihren Ehemann in die Bresche sprang, dachte sie sich zunächst nichts dabei. Für oppositionelle Belarussen überraschend akzeptierte der seit 1994 an der Macht befindliche Diktator ihre Kandidatur. Der Autokrat war sich seiner Sache sicher. Swetlana Tichanowskaja forderte freie Wahlen und die Freilassung politischer Gefangener - sollte sie doch. In Lukaschenkos Augen war ihre Kandidatur nur ein Scherz. Niemand in Belarus würde eine Frau wählen. Doch nach Auszählung der Stimmen in einigen Wahllokalen zeichnete sich ein klarer Sieg für Swetlana Tichanowskaja ab. Hatte sie dem Diktator Paroli geboten? Als das Staatsfernsehen gegen 22 Uhr dann verkündete, 80 Prozent der Stimmen seien für Lukaschenko abgegeben worden, wusste jeder, dass dies eine faustdicke Lüge war. Swetlana Tichanowskaja avancierte rasch zur Symbolfigur. Sie mobilisierte Zehntausende, die gegen das Willkürregime protestierten. Die Zustände in den Straßen der Hauptstadt Minsk glichen einem Bürgerkrieg - das hatte sich Lukaschenko sicherlich anders vorgestellt. Als er in einem TV-Interview auf seine Herausforderin angesprochen wurde, hörte man ihn mit zerknirschter Stimme sagen: "Über diese weibliche Person werde ich nicht sprechen. Ich streite nicht mit Frauen". Drohungen und Repressionen der Regierung zwangen sie schon bald, sich ins Nachbarland Litauen abzusetzen. Über einen längeren Zeitraum hinweg begleitet die Kamera ihren politischen Alltag im Exil. Der Film zeigt, wie sie unermüdlich diplomatische Beziehungen knüpft, unter anderem zur ehemaligen Bundeskanzlerin Angela Merkel und dem französischen Staatschef Emmanuel Macron, bei denen sie für Sanktionen gegen das Lukaschenko-Regime warb. Zu den Highlights zählt ein Treffen mit dem früheren US-Präsidenten Joe Biden, der ihr Unterstützung zusagt, mehr aber auch nicht. Unterdessen analysiert einer ihrer Mitstreiter jene Handyvideos von Oppositionellen, die das skrupellose Vorgehen der Polizei in den Straßen von Minsk gegen Demonstranten festhalten. Die Situation spitzte sich immer mehr zu. Pro Tag verhafteten Sicherheitskräfte etwa 500 Oppositionelle. Wie es denen hinter Gittern ergeht, lässt das hierzulande weniger bekannte Schicksal des Regimekritikers Roman Protassewitsch erahnen. Im Mai 2021 bestieg der regimekritische Chefredakteur des oppositionellen Telegram-Kanals Nexta in Athen ein Passagierflugzeug nach Vilnius in Litauen, das beim Überflug des belarussischen Luftraums von Jagdbombern unter einem Vorwand zur Landung im belarussischen Minsk gezwungen wurde. Protassewitsch wurde festgenommen. Kurz darauf geriert er sich in einem Video, das die Dokumentation zeigt, als handzahmer Kollaborateur, der betont, er würde "Lukaschenko respektieren". Swetlana Tichanowskaja und ihr Team analysieren diesen Vorfall ausführlich. Neben Roman Protassewitsch wurden nämlich auch 132 Fluggäste aus 12 verschiedenen Nationen als Geiseln genommen. Wenn Swetlana Tichanowskaja sich zu derartigen Vorfällen öffentlich zu Wort meldet, weiß sie, dass alle Oppositionellen die Ohren spitzen. Der Film macht nachvollziehbar, wie sorgsam sie jedes ihrer Worte auf die Goldwaage legt. "Ich muss das verstehen!" blafft sie ihren Pressereferenten an, mit dessen vorgefertigtem Statement sie unzufrieden ist. Für die Oppositionellen in Belarus, die unter den Repressionen des Lukaschenko-Regimes leiden, sind Swetlana Tichanowskajas Kommentare eine moralische Stütze. Entsprechend wichtig ist auch ihre Einschätzung des vermeintlichen Sinneswandels von Protassewitsch. Dass dessen plakatives Video-Statement offensichtlich unter Androhung massiver Folter zustande kam, ist für Swetlana Tichanowskaja nur allzu nachvollziehbar. Schließlich sitzt auch ihr Ehemann Sergej Tichanowski seit Jahren in Belarus hinter Gittern, verurteilt zu 18 Jahren Haft in einer Strafkolonie; offiziell wegen der Organisation von Massenunruhen. Ein Höhepunkt des Films ist daher die Dokumentation seiner vorzeitigen Entlassung im Juni 2025 - ein kalkulierter Schachzug des Autokraten Lukaschenko, der den Oppositionellen "aus humanitären Gründen" freiließ. Als Tichanowski erstmals vor die Öffentlichkeit tritt, ist der ehemals stattliche Mann nur noch ein Schatten seiner selbst. Ein Schlüsselmoment in dieser thematisch relevanten Dokumentation ist der Überfall Russlands auf die Ukraine, der am 24. Februar 2022 begann. Die ukrainische Hauptstadt Kiew liegt nur etwa 80 Kilometer von der belarussischen Grenze entfernt. Belarus spielt daher eine strategische Rolle als Stützpunkt und Logistikbasis für die russische Militäraggression gegen das Nachbarland. Dabei macht der Film auch spürbar, wie schwer es Swetlana Tichanowskaja und ihr Team getroffen hat, dass sie von diesem Angriffskrieg vollkommen überrascht wurden. Die so couragierte Frau erscheint in diesem Moment wie vom Donner gerührt. Welche Bedeutung hat eine Exil-Opposition, wenn sie von einem derart einschneidenden Ereignis nicht die leiseste Ahnung hat? "The Accidental President - Swetlana Tichanowskaja" wirft einen etwas anderen Blick auf den Ukrainekrieg. Mike Lerner und Martin Herring zeichnen das Porträt einer mutigen Frau, die Politik und Freiheit mit jeder Faser lebt.