Das Leben nackter Zahlen - ARD entdeckt mit Serie "Hundertdreizehn" ein vernachlässigtes Genre

Von Jan Freitag (KNA)

SERIE - In "Hundertdreizehn" macht das Erste die Statistik zur Basis einer Dramaserie. Reale Frage: Wer ist von tödlichen Verkehrsunfällen mittelbar betroffen? Fiktive Antwort: sehr viele verschieden heftig.

| KNA Mediendienst

alt

"Hundertdreizehn"

Foto: Frank Dicks/Windlight Pictures/WDR/KNA

Bonn (KNA) Verschiedene Katastrophen miteinander abzugleichen, schlimmer noch: gegeneinander aufzuwiegen, verbietet sich im Angesicht der Leiden von selber. Dass kein Unglück durchs andere erträglicher wird, hätte daher gewiss auch Riccarda Hövemann unterschrieben. Bis sie erfährt, dass ihr langjähriger Lebensgefährte bei einer Massenkarambolage ums Leben kam, die er allem Anschein nach nicht nur gezielt herbeigeführt hat. Offenbar war der Vater ihres gemeinsamen Kindes auch sonst ein völlig anderer als gedacht. Erweiterter Suizid eines geliebten Betrügers? Schwer, da auch noch um den Täter zu trauern. Zumal er scheinbar nicht nur zwei Dutzend Menschen auf dem Gewissen hat. Statistisch gesehen zieht jeder Verkehrsunfall pro Todesopfer 113 Personen in mittelbare Mitleidenschaft. Das ergab eine Studie des Bundesverkehrsministeriums. Das ist auch die Prämisse von Arndt Stüwes ARD-Serie "Hundertdreizehn". Der Drehbuchautor füllt die nackte Zahl rechnerisch Betroffener darin mit zwei Dutzend Fernsehexistenzen, die Regisseur Rick Ostermann sechs Teile lang zum Leben erweckt. Angefangen mit dem Busfahrer. Auf dem Weg von Köln nach Graz durchbricht Theo (Felix Kramer) unvermittelt die Leitplanke, gibt Gas und zieht eine Spur der Verwüstung im Gegenverkehr nach sich. Zufall, Absicht, beides? Während die Soko des Kripo-Ermittlers Jan Auschra (Robert Stadlober) gemeinsam mit der BKA-Spezialistin Anna Goldmundt (Lia von Blarer) einer Amokfahrt nachspürt, trauern Riccarda (Anna Schudt) und ihre Tochter Ela (Eva Hirschburger) nicht als einzige um Mann und Vater. Sie teilen den Schmerz mit Caro (Patricia Aulitzky) und deren Tochter Salma (Allegra Tinnefeld). Es ist nur einer von vielen Mehrfachknoten dieser verwickelten Katastrophe. Im zweiten Teil lernen wir den dementen Fuhrunternehmer Richard Born (Armin Rohde) kennen, der als Augenzeuge involviert ist und kurz darauf Clara (Friederike Becht) trifft, die ihre Mutter zur gleichen Alzheimer-Therapie begleitet. In Folge vier dann erweist sich die Architektin als Unfallüberlebende, der eine Episode zuvor kurz Feuerwehrmann Jesper (Max von der Groeben) begegnet war, in dem die Triage eingeklemmter Passagiere im brennenden Bus ein schlecht verarbeitetes Kindheitstrauma wachruft. Um es mal mit der mythenumwirbelten Roman- und Filmfigur Dirk Gently von Douglas Adams auszudrücken: Everything is connected. Aufs Engste verbunden sind demnach auch Qualität und Prominenz sämtlicher Darstellerinnen und Darsteller mit der Komplexität ihrer Geschichten und Charaktere. Manchmal ist das Knäuel zusammenlaufender Fäden zwar fast ein bisschen arg verknotet. Dass Lia von Blarers Attentatsexpertin Anna autistische Züge aufweist, zwischendurch noch eine Braut auf der Flucht im Bus auftaucht und am Ende gar ein bewaffneter Maulesel, bläst die Story mitunter theatralisch auf. Arndt Stüwe vermag es allerdings, die eigenständigen Kapitel der Anthology-Serie horizontal so virtuos zu verknüpfen, dass ein schlüssig fesselndes Gesamtkunstwerk daraus entsteht. Hauptverantwortlich ist dafür allerdings nicht nur Rick Ostermanns kluge Dialogregie. Auch Ralph Kaecheles intensive Kameraführung, die er bereits im vielfach preisgekröntem Dirigentinnen-Porträt "Tár" mit Cate Blanchett erproben durfte, trägt ihren Teil dazu bei. Ihr gedämpftes (nicht behäbiges) Tempo zieht das Publikum sechsmal 45 Minuten noch mehr in seinen Bann als Theos seltsame Familienaufstellung - der einzige Erzählstrang, den das Drehbuch abseits vom Ermittler-Trio durch alle Episoden zieht. Das Episodenpersonal ist dabei zwar ein bisschen zu kultiviert, wohlhabend, attraktiv, also wenig alltäglich. Und zum Ende hin lässt Ostermann sein Drama - wie zuvor bereits die dritte Staffel der heillos überfrachteten Weltkriegsserie "Das Boot" - obendrein ein Stück zu weit Richtung Räuberpistole eskalieren. Leisere Sequenzen wie das doppelte Unglück des Pianisten Alex (Vladimir Korneev) oder Hännos angenehm unaufgeregte Online-Wühlarbeit holen sie jedoch regelmäßig auf den Boden der Tatsachen eines vernachlässigten Genres zurück. Abgesehen der Anthology-Serien "Schuld" und "Verbrechen" nach Motiven von Ferdinand von Schirach, wird dieses Genre hierzulande noch viel zu selten realisiert. Schade eigentlich - haben "Die nettesten Menschen der Welt" 2023 doch gezeigt, dass ein öffentlich-rechtliches "Black Mirror" mit überlappendem Episodenpersonal verschiedener Handlungsorte nicht bloß möglich, sondern sehenswert sein kann. Umgekehrt machte es vier Jahre zuvor hingegen die Netflix-Reihe "Criminal". Aber auch das europäische Experiment, Verdächtige aus Deutschland, Großbritannien, Frankreich und Spanien in identischer Kulisse zu verhören, war gelungen. Was all diese Serien gemeinsam haben, ist allerdings ihr artifizieller Ansatz. Ganz gewöhnlicher Alltag wird darin oft einem künstlerisch wertvollen, aber leicht abgehobenen Storytelling geopfert. Auch hier hätte man daher gern etwas mehr über "Hundertdreizehn" mittelbar Betroffene aller Unfallopfer erfahren. Doch wer weiß, vielleicht hebt sich die ARD das ja für eine Fortsetzung auf.

Lesen Sie weiter auf www.KNA-News.de