Was war deutsch am Wirtschaftswunder? - Arte-Doku blickt mit Frankreich und Polen auf Nachkriegsdeutschland

Von Christian Bartels (KNA)

DOKU - Die Arte-Doku "Geraubtes Wirtschaftswunder" wirft neue Blicke auf die deutsche und europäische Nachkriegszeit. Obwohl die Gewichtung nicht durchgehend gelungen ist, gelingt es dem Film, alte Fakten neu zu erzählen.

| KNA Mediendienst

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"Geraubtes Wirtschaftswunder"

Foto: Torsten Gronemeyer/ZDF/Arte/KNA

Straßburg (KNA) Auf die "Stunde Null" 1945 folgte mit der Währungsreform und der D-Mark bald Wirtschaftswunder und soziale Marktwirtschaft, gerne mit einem durch wiederaufgebaute Städte tuckernden VW-Käfer symbolisiert: Diesen "Gründungsmythos der Bundesrepublik Deutschland" will der 90-minütige Arte-Dokumentarfilm "Geraubtes Wirtschaftswunder - Die übertünchte Vergangenheit der Deutschen" widerlegen. Ein wenig mag man sich am Anfang fragen, wie viele Menschen in der interessierten Zielgruppe denn noch an solche Erzählungen aus der frühen Nachkriegszeit glauben. Jede Menge Dokus, Bücher und Presseartikel arbeiten schließlich eher seit Jahrzehnten als seit Jahren das Verdrängen und vermeintliche "Bewältigen" der Vergangenheit in der Nachkriegszeit auf. Doch der Film von Dietrich Duppel (Regie und Buch mit Thomas Schuhbauer) ist spannend - was nicht zuletzt am gut zusammengestellten Materialmix liegt. So ist Ludwig Erhard, der so beliebte wie beleibte Bundeswirtschaftsminister (der erst als Bundeskanzler für gut drei Jahre in den 1960ern an Erfolg einbüßte) sowohl in persona zu sehen, wie er seine Slogans vom "Wohlstand für alle" vorträgt, als auch in neckisch bunten Zeichentrickfilmen mit gereimtem Kommentar. Wahlkampf zu machen, das beherrschte Erhard. Zugleich ordnen gut argumentierende Experten bekannte Fakten in weniger präsente Zusammenhänge ein. So fiel das westdeutsche "Wirtschaftswunder" überhaupt nicht aus dem europäischen Rahmen. Fast alle Länder, nicht nur im Westen, verzeichneten nach 1945 starkes Wachstum, sagt der Wirtschaftshistoriker Alexander Nützenadel. Spanien, das sich nach seinem Bürgerkrieg am Weltkrieg gar nicht beteiligt hatte, erreichte dabei das höchste. Den Käfer-Mythos relativieren gleichzeitige Erfolge französischer Kleinwagen. Der Renault 4 CV etwa wurde bis 1960 eine Million mal verkauft - und das, obwohl der Konzern verstaatlicht wurde, nachdem Louis Renault 1944 - wegen Kollaborationsvorwürfen im Gefängnis sitzend - gestorben war. Die mit den bekannten Trümmerlandschafts-Bildern dokumentierte gewaltige Zerstörung Deutschlands betraf vor allem Großstädte. Von der industriellen Substanz war 1945 allerdings verhältnismäßig wenig zerstört, sagt die "taz"-Journalistin Ulrike Herrmann. Die gut gesicherten Fabriken hätten die Alliierten oft nicht bombardieren können und sich deswegen auf Transportwege beschränkt. Und zerstörte Gleise zu reparieren ging dann relativ schnell. (Wozu man als Zuschauer der 2020er Jahre ausrufen möchte, dass das in der Gegenwart offenkundig nicht mehr gilt!). Jedenfalls gab es für die westdeutsche Industrie eher keine "Stunde Null". Bloß psychologisch half der Begriff, sich nicht lange mit Schuld auseinanderzusetzen, sagt Nützenadel. "Jeder Deutsche fühlte sich als Opfer", ergänzt Herrmann. Was dann auch dazu führte, dass lange keinerlei Unrechtsbewusstsein galt: Die Enteignungen von jüdischem Besitz im Wert von umgerechnet "mehreren hundert Milliarden Euro" und der Einsatz von Zwangsarbeitern in den Kriegsjahren wurden zunächst überhaupt nicht problematisiert, obwohl sie zum schnellen Wiederaufstieg der weiter bestehenden Unternehmen beigetragen hatten. Zwangsarbeit, die 1944 für gut ein Drittel der deutschen Produktion gesorgt hatte, wurde erst im 21. Jahrhundert zum Thema, das die meisten Firmen erst aus sicherem zeitlichen Abstand und nicht ganz freiwillig begannen aufzuarbeiten. Zwar setzten alle Staaten Kriegsgefangene zur Zwangsarbeit ein, doch in Nazideutschland wurden sie besonders schlecht behandelt. Das belegen drastisch-unmenschliche Zeilen aus amtlichen Schreiben, die etwa fordern, Russen Weizenmehl zu verweigern. Die Arbeitskräfte, die die Kriegswirtschaft am Laufen hielten, sollten zugleich durch Arbeit physisch vernichtet werden, was nicht einmal ökonomisch rational war. So entsteht anhand von aufschlussreichen Zahlen und Details tatsächlich ein mitunter frappierendes neues Bild rund um längst bekannte Fakten, etwa auch, was die wenig beachtete Rolle des jüdischen Ökonomen Edward Tenenbaum bei der Währungsreform angeht, die Ludwig Erhard der westdeutschen Öffentlichkeit erfolgreich als seinen eigenen Verdienst verkaufte. Die Gewichtung mancher Aspekte in den 90-Minuten-Film ist dabei manchmal fragwürdig. Recht ausführlich geht der Film zum Beispiel der Geschichte eines nach oder doch noch in der Nazizeit entstandenen Gemäldes von der Münchener Feldherrnhalle nach. Das ist nicht uninteressant, fällt aber - schon wegen der volkswirtschaftlich eher unbedeutenden Rolle der bildenden Kunst - aus dem Rahmen. Dass es "auch in der Kunst keine Stunde Null" gab, wie die Kunsthistorikerin Anke Gröner sagt, überrascht nicht. Es geht offensichtlich nur darum, das "Übertünchen" aus dem Untertitel plastischer zu machen. Etwas zu knapp geht es auch um die Frage, inwieweit deutsche "Wiedergutmachungs"-Zahlungen angemessen waren und sind. Auch hier nennt der Film bemerkenswerte Zahlen: Von umgerechnet rund 81 Milliarden gezahlten Euro flossen rund 49 Milliarden per Bundesentschädigungsgesetz zurück ins Land, also an Deutsche. Hier kommt die Perspektive Polens in Spiel, das aktuell wieder Reparationen fordert. Dass der Film das komplexe Thema der Westverschiebung des Landes - Polen musste nach 1945 große Landesteile im Osten an Stalins Sowjetunion abgeben und erhielt dafür Teile Preußens - gar nicht erst anspricht, wirkt allerdings etwas arg vereinfachend. Offizielle Vertreter Polens führen im Film aus, nun gehe es eher um moralische Genugtuung. Wäre ein deutscher Beitrag zur polnischen Sicherheit an seiner Ostgrenze, wie der Beauftragte für ponisch-deutsche Zusammenarbeit, Krzysztof Ruchniewicz, sagt, ein Weg? Das führt in die Gegenwart, in der europäische Einigkeit geopolitisch notwendiger denn je erscheint. Während viele aktuelle Wahlergebnisse in Polen, Deutschland und Tschechien allerdings eher darauf deuten, dass es wieder schwieriger werden dürfte, gemeinsame Nenner zu finden. Dem Dokumentation dagegen gelingt es, solche Nenner zu eruieren, weil sie das Phänomen des schnellen Wirtschaftsaufschwungs des Weltkriegs-Verlierers Westdeutschland auch mit französischen und polnischen Stimmen betrachtet. "Geraubtes Wirtschaftswunder" behandelt aufwühlende Themen in bemerkenswert unaufgeregtem Tonfall. Das gilt übrigens auch formal. Anders als in vielen anderen Dokus kommen Sounddesign und Musikeinsatz wohltuend unaufgeregt daher. Gerade darum können zeitgenössische Zeugnisse wie Ludwig Erhards Wahlkampf-Filme Wirkung entfalten. Auf der Bildebene verzichtet der Film auf Animationen und Re-enactments und scheut sich nicht, unspektakuläres Originalmaterial wie unbewegte Schwarzweißfotos zu zeigen, die so authentisch vom damaligen Zeitgeist zeugen, zu dem etwa eben auch Wohlstandsbäuche gehörten. Das ergibt insgesamt ein "rundes" Bild.

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