Gewappnet für die Folgen der Digitalisierung - Kulturwissenschaftler Simanowski fordert andere Debatte rund um KI

Von Joel Schmidt (KNA)

SACHBUCH - In seinem neuen Buch "Sprachmaschinen. Eine Philosophie der künstlichen Intelligenz" analysiert Roberto Simanowski die Wechselwirkungen zwischen Technik und Gesellschaft. Ein Appell für die kritische Medienbildung.

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"Sprachmaschinen"

Foto: Vira Simon/Imago/KNA

Bonn (KNA) Manchmal wiederholt sich Geschichte - und das in einem zunehmend rasanten Tempo. Ob Grok, Gemini, Claude oder ChatGPT: Nur wenige Jahre nach Markteinführung sind Sprachmodelle zu strukturierenden Elementen des World Wide Web und Social Media geworden. Doch während die dahinterstehenden Konzerne und Start-ups bereits mit Hochdruck an der Weiterentwicklung des technisch Möglichen feilen, hinkt der Rest der Welt hinterher, wenn es um die Frage nach dem Warum und Wofür des Ganzen geht. "Die Gesellschaft fährt auf Sicht", schreibt Roberto Simanowski in seinem neuesten Werk "Sprachmaschinen. Eine Philosophie der künstlichen Intelligenz". Weder in Politik, Bildung noch Medien werde sich der drängenden Frage angenommen, "wie wir in zehn Jahren leben wollen und wohin es mit der Digitalisierung und der KI-Entwicklung eigentlich gehen soll." Visionen, beklagt der Kulturwissenschaftler und Medienphilosoph, hätten nur noch die KI-Unternehmen. Er moniert, dass die Beschäftigung mit dem Naheliegenden die Auseinandersetzung mit dem Grundlegenden in den Hintergrund treten lasse. Doch genau das ist es, was Simanowski interessiert: die gesellschaftliche Wirkung der Technik. Herrschten in der öffentlichen Debatte die Themen Jobverlust, "Deepfakes" oder das Horrorszenario einer sich verselbstständigenden Superintelligenz vor, lenkt der Autor den Blick auf das, "was über das Offensichtliche hinausgeht und was weitgehend unbeobachtet geschieht: der alltägliche Souveränitätstransfer zwischen Mensch und Maschine." Dafür führt Simanowski sein Publikum nicht nur kenntnisreich und anschaulich durch Genese und technische Funktionsweise diverser Sprachmodelle. In seinem angenehm zusammengestellten Ritt durch die jüngere Philosophiegeschichte gelingt es ihm auch, auf der Metaebene drängende Fragen aufzuwerfen und umfangreich zu diskutieren: etwa, wie KI-genormte Sprache unseren Zugang zur Welt verengt, wie sich globale Machtverhältnisse durch eine "Kolonialität des Wissens" und "die Entwertung und Eliminierung von nicht-westlichen Wissenssystemen" verfestigen oder wie die drohende Hyperpersonalisierung von Sprachmodellen die Tendenz zu Filterblasenbildung und Manipulation verstärkt. Das Angenehme: Man hat nie den Eindruck, der Autor wolle einen auf (s)eine Seite ziehen oder überzeugen. Auch wenn es etwas floskelhaft anmuten mag, wenn Simanowski schreibt, dass er "Philosophie als Freude am Denken, jenseits naheliegender Denkbahnen und engbegrenzter Denkrahmen", betreibe, kauft man es ihm doch irgendwie ab. Einfach, weil es Freude bereitet, ihm während der Lektüre beim Denken über die Schulter schauen zu können und zu bezeugen, wie er sich darum bemüht, seinen Lesern Einsichten zu vermitteln, "aus denen sich etwas machen lässt". Neben vielfachen Momenten des Erkenntnisgewinns ist das vor allem an jenen Stellen wertvoll, in denen man als Leserin oder Leser mit profunden Gegenargumenten zu den eigenen Überzeugungen konfrontiert wird. Viel Aufmerksamkeit widmet Simanowski dem Thema Universalismus und Werte-Export, was ihn schließlich zu der Frage führt, ob Sprachmodellen nicht auch das utopische Potenzial einer kosmopolitischen Weltgemeinschaft innewohnt: Könnten sie, statt Gräben zu vertiefen, die Kraft haben, die Menschheit wieder ein Stück näher zueinander zu bringen? Die Verdopplung der Vorherrschaft des Globalen Nordens über den Globalen Süden durch KI veranschaulicht der Kulturwissenschaftler am Beispiel des autonomen Fahrens: "Das selbstfahrende Auto bringt nicht nur die Automatisierung, es bringt auch die Disziplinierung des Fahrens mit sich; der Technik ist ein bestimmter Fahrstil eingeschrieben, der im Westen gemacht wurde." Eine mögliche Lösung, um den dominierenden westlichen Bias aus KI und Sprachmodellen zu korrigieren, könnten daher regional zugeschnittene Angebote sein. Zur Verdeutlichung verweist Simanowski auf das "Moral Machine"-Experiment des Massachusetts Institute of Technology von 2016. Anhand von dreizehn Unfall-Szenarien gaben Teilnehmer an, wem ein selbstfahrendes Auto als erstes ausweichen sollte. Bei der Auswertung kamen klare kulturelle Unterschiede in der Frage zum Vorschein, welches Leben als schützenswert gilt. Simanowski: "Die Autoren des Moral Machine-Experiments schlagen deshalb vor, die KI in selbstfahrenden Autos an den jeweiligen Markt anzupassen, womit die Utopie einer globalen, universellen, kosmopolitischen Lösung schon bei einer so einfachen Sache wie dem Autofahren gescheitert wäre." Fehlenden gesellschaftlichen Visionen im Umgang mit KI und Sprachmodellen begegnet Simanowski mit einem Appell für "die Vermittlung einer robusten Medienkompetenz". Zwar könne man auch hier weiter "auf Sicht fahren und es beim Dringlichsten belassen", also technische Kenntnisse im Umgang mit KI vermitteln. Oder aber man nehme die Geisteswissenschaften in die Pflicht, investiere in die Fähigkeit kritischen Denkens, um die Gesellschaft langfristig für die Folgen der Digitalisierung zu wappnen: vor der Aufmerksamkeitsökonomie, der Polarisierung des Internets, der Filterblasenfalle der sozialen Medien sowie der Überzeugungskunst von Sprachmaschinen. "Vielleicht", schlussfolgert Roberto Simanowski, "ist das ja das zentrale Ziel einer zukunftsfähigen Medienbildung: die Kultur des Denkens pflegen - Interpretieren, Diskutieren, Philosophieren. Um keine 'kognitiven Schulden' anzusammeln, wenn wir das Denken der Maschine überlassen."

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