Knallharte Recherche statt Hörensagen - Buch über Tiktok erhellt die Strukturen hinter der umstrittenen App

Von Jana Ballweber (KNA)

SACHBUCH - Tiktok wird immer beliebter und immer umstrittener. Ein Sachbuch der US-Tech-Journalistin Emily Baker-White schaut hinter die Kulissen der App - und macht plausibel, warum sie immer wieder zu politischem Streit führt.

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"Tiktok Time Bomb"

Foto: Harald Oppitz/KNA

München (KNA) Bücher über Plattformen, Social Media und das Internet sind in den vergangenen Jahren viele geschrieben worden. Die meisten von ihnen zeigten vor allem, dass es an starken Meinungen zum Thema nicht mangelt. Insbesondere die Unternehmen, die hinter den Plattformen stehen, wurden in den vergangenen Monaten in ein immer schlechteres Licht gerückt - oft auch mit Recht. Was hingegen oftmals fehlt, ist die gründliche journalistische Recherche über die Machenschaften der Tech-Konzerne, die über bloßes Hörensagen hinausgeht. Vor allem deshalb ist das kürzlich erschienene Buch "TikTok Time Bomb" der US-amerikanischen Tech-Journalistin Emily Baker-White eine erfrischende Ausnahme. Der Streit um die chinesische Kurzvideoplattform Tiktok, die inzwischen von Milliarden Menschen genutzt wird, schwelt vor allem in den USA seit Jahren und hat immer wieder geopolitische Dimensionen angenommen. Präsident Donald Trump wollte die App während seiner ersten Amtszeit verbieten, um China eins auszuwischen. Seine Verordnungen wurden aber von Gerichten kassiert und Tiktok konnte weiter machen - bis der Kongress unter Präsident Joe Biden einen zweiten Anlauf unternahm und entschied, dass Tiktok an ein US-Unternehmen verkauft werden oder seine Tätigkeit in den USA einstellen müsse. Ein Gesetz, das Präsident Trump in seiner zweiten Amtszeit geerbt hat und dass er - inzwischen zum Tiktok-Fan gewandelt - aber seit Monaten einfach nicht umsetzt. Immer wieder berichtet er von Gesprächen mit möglichen Käufern, angeblichen Einigungen mit dem chinesischen Präsidenten Xi Jinping, doch in trockenen Tüchern ist bisher nichts. Warum die Sache so verzwickt ist, versteht man nach knapp 400 Seiten "TikTok Time Bomb" um einiges besser als vorher. Wenige außerhalb von Tiktok und dem Mutterkonzern Bytedance kennen die Sachlage so gut wie Baker-White, die seit Jahren über Tiktok berichtet - erst für Buzzfeed, mittlerweile für das US-Wirtschaftsmagazin "Forbes". Die Journalistin erklärt detailliert, was Gründer und Entwickler eigentlich mal mit Tiktok im Sinn hatten, aus welchem Mindset heraus sie ihre unternehmerischen und technischen Entscheidungen treffen und welches Chaos im Unternehmen bis heute zu herrschen scheint. Besonders eindrücklich schildert sie, wie Mensch und Technik seit Anbeginn zwischen den Kulturen, politischen Systemen und geopolitischen Streitigkeiten zerrieben werden. Bytedance-Gründer Zhang Yiming wollte ein globales Unternehmen führen und Apps entwickeln, die weltweit erfolgreich sind. Er glaubt fest daran, dass Algorithmen besser darin sind, Menschen die Inhalte zu liefern, die sie wirklich sehen wollen, als menschliche Entscheider. Doch noch nie wurde in einer Veröffentlichung über Tiktok so deutlich wie in diesem Buch: Es geht einfach nicht. Man kann keine Plattform wie Tiktok führen, die sich gleichzeitig an chinesische und US-amerikanische Gesetze hält. Die Anforderungen an Unternehmensführung, Zensur, Meinungsfreiheit und Moderation sind zu unterschiedlich, der Tanz auf der Rasierklinge muss früher oder später zu Fehltritten führen. Während in der EU in Bezug auf Tiktok vor allem über Jugendschutz, Suchtpotenzial und Radikalisierung diskutiert wird, stören sich die USA an zwei ganz anderen Dingen: an der Weiterleitung von US-Nutzerdaten nach China und am möglichen Einfluss der chinesischen Regierung auf den Algorithmus und damit auf den Medienmix, der bei den US-Bürgerinnen und -Bürger ankommt. Hier sehen viele in den USA eine Gefahr für die nationale Sicherheit, was im vergangenen Jahr schließlich zum Erlass des Verbots oder erzwungenen Verkaufs der Plattform führte. Den Regulierern muss allerdings auch damals klargewesen sein, dass ein Verkauf, der tatsächlich das US-Geschäft ganz von China trennt - so sieht es das Gesetz ofiziell vor - nicht denkbar ist. Denn die chinesische Regierung müsste einen solchen Verkauf genehmigen, was sie in der Vergangenheit immer ausgeschlossen hat. Und auch die Modelle, die Präsident Trump vorschweben, dürften seinen eigenen Anforderungen zum Schutz der nationalen Sicherheit nicht erfüllen. Denn auch das zeigt Baker-White in ihrem Buch: Es ist eigentlich gar nicht möglich, zu sagen, wo Tiktok aufhört und der Mutterkonzern Bytedance anfängt. Um ein Verbot zu verhindern, versuchte das Unternehmen über Monate oder sogar Jahre, selbst herauszufinden, welche chinesischen Mitarbeiter Zugriff auf welche US-Nutzerdaten haben. So genau weiß das wohl bis heute niemand. Das ist vor allem heikel, weil ein chinesischen Geheimdienstgesetz jeden Staatsbürger zwingt, auf entsprechende Aufforderung Informationen über jeden Menschen an die kommunistische Partei weiterzugeben - ob in China oder im Ausland. Das bekam Baker-White auch am eigenen Leib zu spüren. Zu einer Zeit, in der Tiktok öffentlich immer wieder versprochen hatte, dass die Daten der US-Nutzer nicht nach China gelangen, wurden die Daten der Journalistin trotzdem zu chinesischen Bytedance-Beschäftigten geschickt. Sie hatte über interne Dokumente von Tiktok berichtet und die Konzernspitze wollte den Whistleblower finden, der ihr die Informationen zugespielt hatte. Dafür verglichen sie Baker-Whites Bewegungsprofil, das über die IP-Adresse von der Tiktok-App aufgezeichnet wird, mit den Bewegungsprofilen von Tiktok- bzw. Bytdance-Mitarbeiter, um Überschneidungen zu finden. Ein Skandal, der 2023 den politischen Prozess rund um das Verbot in den USA beschleunigt hatte. Wie es mit Tiktok in den USA weitergeht, ist dennoch gegenwärtig völlig unklar. Anders als die EU gibt es in den USA keine Datenschutzgesetze oder andere Formen der Regulierung im Netz, die Tiktok einhegen könnten. Trotz der jetzt geschwungenen ganz harten Verbotskeule scheint es aber unwahrscheinlich, dass Trump das Gesetz im Sinne der Erfinder umsetzt. Doch nach der Lektüre von "TikTok Time Bomb" wird klar, dass auch die EU aktiver werden müsste und nicht einfach laufen lassen kann, was in der Konzernzentrale von Bytedance ersponnen wird. Allein für diese Erkenntnis lohnt es sich, zu Baker-Whites Buch zu greifen. Es bleibt zu hoffen, dass der sehr reißerische Titel nicht allzu viele Leser abschreckt, die sonst ein wirklich erhellendes Sachbuch verpassen würden.

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