Cannes (KNA) Die Hälfte aller Streaming-Stunden in den USA entfallen heute auf Netflix und Youtube, konsumiert von vorwiegend jüngeren Menschen - eben genau der Gruppe, nach der Sender, andere Bewegtbildanbieter sowie Werbetreibende lechzen. Und das bringt auch die klassischen Player dazu, ihre Inhalte auf Youtube anzubieten. Es gibt weltweit wohl keine Fernsehstation mehr, die nicht mit eigenen Kanälen dort präsent wäre. "Wir sind in eine Welt der Hyperdistribution eingetreten, viele TV-Sender erstellen ihre eigenen digitalen BVOD-Dienste, aber alle wollen das junge Publikum erreichen", analysierte Frédéric Vaulpré, Vizepräsident des Marktforschungsunternehmens Glance, in Südfrankreich die Situation, "und so muss man mit Plattformen wie Youtube oder Netflix zusammenarbeiten." Besonders für die öffentlich-rechtlichen Sender in Europa, die im Linearen über eine deutlich überalterte Zuschauerschaft verfügen, ist Youtube das Sprungbrett zu den jungen Zielgruppen. Jasmine Dawson von der BBC etwa lobpreiste an der Côte d'Azur das eigene Naturdoku-Angebot "BBC Earth" bei Youtube, das es auf über 14 Millionen Abonnenten bringt. "Die Wahl des Ausspielwegs folgt stets der Zielgruppenlogik - mit klarer Priorität auf unsere eigenen Plattformen", erklärte auch das ZDF seinen Hang zu Youtube und anderen Drittplattformen, die gezielt eingesetzt würden, "um jüngere Zielgruppen dort zu erreichen, wo sie unterwegs sind". WDR-Programmdirektor Jörg Schönenborn wiederum verwies auf die Doku "Heilung hinter Gittern" über die Forensische Psychiatrie Düren. Sie sei "ein konkretes Beispiel" dafür, wie Youtube als "schneller Sensor" für sensible Themen eingesetzt werden kann: "Das ist kein leichtes Thema, und trotzdem haben wir in kurzer Zeit über 300.000 Aufrufe und eine sehr konstruktive Debatte der Community zum Maßregelvollzug und der psychischen Belastung des Personals erreicht." Und als es zum Umsturz in Syrien kam, habe eine WDR-Doku über die Herrscherfamilie Assad aus dem Archiv auf der Plattform innerhalb weniger Tage gar "Nutzer im Millionenbereich" generiert. Private Sender, für die Werbeeinnahmen weiter das A und O sind, verhalten sich in Sachen Youtube laut Glance-Chef Vaulpré allerdings zurückhaltender: "Vermutlich, weil für sie das Umsatzbeteiligungsmodell von Youtube und anderen Anbietern nicht vorteilhaft genug ist, beziehungsweise für die Technologieriesen vorteilhafter ausfällt." Aber auch die Privaten können auf die Videoplattform nicht verzichten. Tatsächlich finden sich jetzt mehr denn je Partner zusammen, die eigentlich in Konkurrenz zueinanderstehen: Mit Augenzwinkern spricht die Branche von "Frenemies". Gerade erst hat RTL bekannt gegeben, sein Online-Angebot auch auf Amazon Prime Video verfügbar zu machen. "Der weltweite Markt mit einem Wert von 800 Milliarden Dollar ist im Wesentlichen zweigeteilt", erklärte der Londoner Media Analyst Guy Bisson von Ampere Analysis dem KNA-Mediendienst während der Mipcom. "Die eine Hälfte schrumpft, die andere wächst." Diese Zweiteilung offenbart nicht nur in seiner Sicht einen grundlegenden Wandel im Unterhaltungsökosystem. Die traditionellen Geschäftsbereiche - Fernsehen, Transaktionsvideos und Kinostarts - haben alle zu kämpfen, während die aufstrebenden Sektoren Streaming- und Online-Videoplattformen wie Youtube und Tiktok boomen. Das klassische Fernsehgeschäft sei allerdings immer noch lokal geprägt - mit der Produktion von hochwertigen, kostspieligen Inhalten, während die großen Big-Tech-Plattformen wie Youtube global agieren und sich als Bühne oder Mittler für Creator mit selbstproduzierten, meist preiswert produzierten Videos sehen. Bisson: "Sobald man also auf diesen lokalen Markt wechselt, entsteht eine ausgewogenere Beziehung, denn was die Plattform erhält, ist der Zugang zu einer großen Menge lokaler hochwertiger Inhalte, und was der Sender erhält, ist die Verbreitung seiner Inhalte an Bevölkerungsgruppen, die sie sonst nicht erreicht hätten, die aber für einen lokalen Markt wichtig sind." Youtube-Europachef Pedro Pina jedenfalls konnte aus einer Position der Stärke heraus an der Croisette entspannt auftreten. Und versicherte, auch weiterhin keine eigenen Inhalte produzieren zu wollen: "Wir sind eher ein Ökosystem, in dem sich Inhalteproduzenten ein eigenes Unternehmen aufbauen können." Als Plattform für Werbeeinnahmen biete sein Unternehmen für Content-Lieferanten über 20 Möglichkeiten zur Monetarisierung. Und das mit einer so detaillierten Analyse der Nutzerschaft, die anderswo wohl kaum möglich wäre. Und genau hier wird ein Knackpunkt sichtbar, der weit über das bloße Medienbusiness hinausgeht. Gerade wurde eine Strafe von drei Milliarden Euro der EU-Kommission gegen das Youtube-Mutterunternehmen Google bestätigt. Der Vorwurf: "Missbräuchliche Praktiken im Bereich der Online-Werbetechnologie". Google schaltet selbst Werbung, vermittelt aber auch zwischen Werbetreibenden und denen, die den Platz dafür online zur Verfügung stellen. Für die Vermittlung von den Werbeplätzen hat das Unternehmen einen eigenen Marktplatz. Dass auch Youtube als Tochterunternehmen von dieser juristischen Auseinandersetzung betroffen sein könnte, verneinte das Unternehmen in Cannes allerdings kategorisch. Europa-Chef Pina beteuerte, dass die Auffindbarkeit und das Ranking von Inhalten nur durch das Interesse der Nutzerschaft gesteuert würde. "Niemand weiß, wie der Algorithmus tatsächlich funktioniert", gab Bisson dagegen zu bedenken, "aber offensichtlich ist die Auffindbarkeit eines der großen Probleme auf dem Markt, auf dem wir heute tätig sind." Deutlicher wird die Landesmedienanstalt NRW. Zum Thema faires Verhältnis zwischen Plattformen und Inhalteanbietern erklärt sie: "Das scheint uns aktuell nicht der Fall zu sein - auch wenn mit der AVMD-Richtlinie und dem Digital Services Act erste Schritte in Richtung eines fairen Wettbewerbs unternommen wurden." Für Schönenborn schließlich sind der Stellenwert und die Macht von Youtube auch Ausdruck "unserer fehlenden digitalen Souveränität in Europa": Denn am Ende würde der Konzern die Regeln bestimmen: "Wenn ein Film gegen die Interessen und Vorgaben von Youtube steht, haben Redaktionen den Eindruck, dass er weniger prominent ausgespielt wird. Manchmal werden Inhalte auch nicht richtig in die passenden Kategorien zugeordnet, was die Sichtbarkeit erschwert." Auch für die Mipcom selbst, auf der sich letzte Woche rund 10.500 Medien-Führungskräfte, Programmeinkäufer, -verkäufer sowie Produzenten aus über 100 Ländern getroffen hatten, bedeutet der Wandel "die größte Veränderung seit einer Generation", wie Messe Chefin Lucy Smith resümierte - und natürlich positive Töne fand: "Wir haben die Creator Economy in den Mittelpunkt des Marktes gerückt und Youtube zu seiner ersten großen Präsenz auf dem Markt begrüßt."