München (KNA) Tiktok und Gedenken? Für Susanne Siegert passt das durchaus zusammen. Auf Sozialen Medien erreicht sie über 400.000 Follower, erhielt im Vorjahr den Grimme-Online-Award und zuletzt den Margot Friedländer Persönlichkeitspreis. Nun ist ihr Buch "Gedenken neu denken" erschienen. Im Interview des KNA-Mediendienstes spricht sie über alte Rituale, neue Leere und verrät, warum sie den Namen Hitler meidet. KNA-Mediendienst: Frau Siegert, als Sie 2020 Ihre Social-Media-Kanäle gestartet haben, welche Rolle spielten der Erfolg der AfD und wachsender Antisemitismus dafür? Susanne Siegert: Sie spielen durchaus eine Rolle für meine Arbeit. Manche der heutigen Akteurinnen und Akteure spielen mit Vokabular aus der Nazizeit oder schrecken zumindest nicht davor zurück. Ideen wie "Remigration", Menschen also gebündelt zu deportieren, gehen klar auf diese Zeit zurück, ebenso Verschwörungsmythen wie die, dass Juden den Zweiten Weltkrieg angefangen hätten. Insofern ist es mir wichtig, mit gut recherchierten Videos dagegenzuhalten. MD: Zugleich beschreiben Sie, dass das Lernen aus der Geschichte meist eher nicht funktioniert. Ist das nicht entmutigend? Siegert: Natürlich habe auch ich Hoffnung darauf. Ich glaube aber, dass dies nicht das Kriterium dafür sein darf, ob wir über ein Thema sprechen oder nicht. Das finde ich respektlos gegenüber den Opfern, deren Nachfahren nach wie vor hier leben - mit Menschen wie mir, also den Nachfahren von Täterinnen und Tätern. Da kann man nicht sagen, aus diesem Massenmord muss zumindest eine Wahlempfehlung entstehen. Hilfreich kann es aber sein, Muster zu erkennen: Warum brennen heute bestimmte Häuser, und warum kommen Menschen erst so spät zu Hilfe? MD: Gedenken und Tiktok - für viele wird das noch immer wie ein Widerspruch in sich klingen. Was entgegnen Sie? Siegert: Auch ich war erstmal skeptisch, weil ich meinen eigenen Tiktok-Konsum kannte und eher spaßige Inhalte verfolgt habe. Doch dann fiel mir auf, dass ich unterschwellig viel dabei lerne, etwa über Rassismus. Daher glaube ich, dass diese Plattform sehr gut geeignet ist, um Menschen zu erreichen - und zwar auch solche, die nicht gezielt nach Inhalten wie meinen suchen. Viele haben ihre Mediennutzung schließlich ganz auf Tiktok und Co. ausgerichtet. MD: Was halten Sie von anderen technischen Wegen, die Erinnerung wach zu halten, etwa Avataren von Zeitzeugen? Siegert: Ich habe den Eindruck, man geht damit drei bis fünf Schritte zu weit und verpasst die niedrig hängenden Früchte: zum Beispiel eben den, über Social Media viele jungen Menschen mit einem wichtigen Thema zu konfrontieren. Ob Virtual Reality und Co. wirklich die Sprache sind, die Jüngere anspricht, bezweifle ich. Viele Gedenkinstitutionen haben gar keine oder keine gute Social-Media-Strategie. Dabei wäre es viel einfacher zu sagen, wir machen einen guten Podcast oder Youtube-Kanal - als gleich Margot Friedländer als Hologramm in jedes deutsche Klassenzimmer zu bringen. MD: Wie könnte sich das verändern? Siegert: Vielleicht mit der Erkenntnis, dass es nicht unüberwindbar schwierig ist, auf diesen Plattformen mit seriösen Inhalten zu punkten. Ich mache alles alleine von meinem Wohnzimmer aus. Wenn ich dann sehe, was die Teams von Bundestagsabgeordneten zeigen, gewinne ich den Eindruck, dass sie die Plattform nicht ernstnehmen. Ich hoffe, dass es bei der nächsten Plattform anders sein wird - dass man sich sofort draufstürzt, um auch mit ernsten, politischen Themen präsent zu sein. MD: Ein anderer Aspekt ist die lokale Nähe. Was kann das verändern? Siegert: Meine Recherchen zum Außenlager Mühldorfer Hart waren der Auslöser für alles, was gefolgt ist - meine Arbeit auf Social Media und das Buch. Es ist ein Aha-Moment, zu erkennen, dass sich dieses abstrakt verortete Geschehen vor der eigenen Haustür abgespielt hat - nicht an weit entfernten Orten mit ganz anderen Menschen. Es zeigt, wie sehr das NS-System alles durchdrungen hat, und auch, wie sichtbar bestimmte Verbrechen waren. "Holocaust gleich Auschwitz" - das stimmt nicht. Es ist sehr wichtig, sich mit diesem Ort, mit Auschwitz, weiterhin zu beschäftigen, aber eben auch mit anderen Orten. Darüber kann man sogar selbst etwas herauszufinden, die Namen der Menschen, die dort ermordet wurden, vielleicht erstmals wieder auszusprechen. MD: Ihre Erklärung, dass man lieber "sadistische Einzeltäter" betrachtet als die eigenen Vorfahren, ist allerdings sehr plausibel. Welche Gefahr liegt darin? Siegert: Genau wie der alleinige Blick nach Auschwitz sorgt dies dafür, dass es sich nach einer Geschichte anfühlt, die einen selbst nicht betrifft. Sie wird in Schwarzweiß-Bildern erzählt und wirkt sofort altertümlich. Wenn man aber in den eigenen Stammbaum schaut und sieht, dass nur zwei Reihen zwischen einem selbst und dem Großvater oder Urgroßvater liegen, der in der Wehrmacht gekämpft hat, dann macht es das Thema greifbarer. Daher spreche ich zum Beispiel seltener von "den Nazis" oder von Hitler, als hätte er alles eigenmächtig getan. Die Bücherverbrennung zum Beispiel - das waren deutsche Studentenschaften, Studis. Das klar zu benennen, verändert die Perspektive. MD: Wo verläuft die Grenze des "Gedächtnistheaters"? Siegert: Ich glaube, dass das Ritualisierte durchaus eine Berechtigung hat. Der 9. November und der 27. Januar sind Trauertage, und Trauerrituale kennen wir auch von Beerdigungen. Mir geht es nicht darum, das wegzulassen - sondern um zusätzliche Formen. Bei Gedenkveranstaltungen kann man fast Bingo spielen mit bestimmten Formulierungen, die fallen werden: "Erinnert euch", "nie wieder" oder die Mahnung, wie bedeutsam das Gedenken gerade heute sei. Dagegen könnte es helfen, wenn auch einmal andere Akteurinnen und Akteure die Bühne betreten - oder eben neue Bühnen finden. MD: Sie fordern eine "neue Deutlichkeit", wenn es um die Benennung von Verbrechen der "Tätergeneration" geht. Warum wäre ein ergänzender Feiertag dafür so wichtig? Siegert: Der 8. Mai muss vielleicht kein Feiertag werden, er ist ja bereits ein etablierter Gedenktag. Allerdings begehen wir ihn aus der Perspektive der Befreiung. Damit sprechen wir aber schnell ins Leere und sind nicht darauf fokussiert, wer hier eigentlich von wem befreit wurde. Es könnte ein Tag sein, um auf Täterdynamiken in der Gesellschaft einzugehen - eben nicht nur über Hitler, Himmler und Heydrich zu sprechen, als wäre mit dem Ende ihres Systems alles vorbei gewesen. MD: Was wünschen Sie sich von der jungen Generation im Umgang mit NS-Geschichte? Umfragen zeigen mitunter erschreckende Wissenslücken. Siegert: Ich hoffe, dass sie trotz ihres jungen Alters die Relevanz des Themas mitbekommen. Das ist nicht ihre Aufgabe, sondern die von Lehrplänen und Lehrkräften - und ich glaube nicht, dass dieses Wissen davon abhängt, ob man jedes Lager aufzählen kann. Natürlich sollte man Auschwitz benennen können. Aber Headlines darüber, wie viele das angeblich nicht können, bekommen mehr Aufmerksamkeit als die Erklärung, warum es wichtig ist, darüber zu lernen. Auch junge Menschen leben in einem Land voller Gedenkzeichen, wo es ehemalige Tatorte gibt und ein Grundgesetz, das aufgrund dieser Verbrechen so gestaltet wurde. MD: Könnten Institutionen wie die Kirchen auf eine künftige "Gedenkarbeit", wie Sie es nennen, Einfluss nehmen? Siegert: Die Rolle der Kirchen ist sehr interessant. Für mich war es eindrucksvoll zu erfahren, wie sich einige Bischöfe gegen die Vernichtung von sogenanntem lebensunwerten Leben geäußert haben. An anderen Stellen taten sie es nicht, vielleicht war es nicht möglich. Dies kann die Kirche an Gedenktagen aufgreifen und ihre eigene Rolle reflektieren. MD: Sie beschreiben ein bis heute negatives Bild von Krankheit und Behinderung, das Betroffene oft als anstrengend oder schwierig darstellt. Sehen Sie darin ein direktes Erbe der Nazi-Zeit? Siegert: Auf jeden Fall. Das zeigt sich in der Sprache und auch darin, wenn aufgerechnet wird, wie viel es kostet, jemanden "durchzubringen". Genau solche Rechnungen haben die Nazis angestellt, und sie haben Listen von psychisch Erkrankten erstellt. Solche Listen waren vor ein paar Monaten wieder im Gespräch. Da gibt es erschreckend viele Parallelen.